Was bleibt von der Fußballsaison 2021/22? Woran werden Fußballfans sich noch in einigen Jahren erinnern? Ganz sicherlich nicht an die 32. Meisterschaft – die zehnte in Folge – für den FC Bayern München. Auch nicht an Borussia Dortmunds sechste Vizemeisterschaft seit der Saison 2012/13. Und auch nicht daran, dass Leipzig sich zum vierten Mal in Folge für die Champions League qualifizieren konnte.
Es sind Dinge unterhalb des „Königsklassen-Fußballs“ (ausgenommen der Halbfinals und des Endspiels Liverpool gegen Real, Klopp gegen Ancelotti), an die Fans sich gerne erinnern werden: die starke Performance von Union, Köln und Freiburg in der Bundesliga, letztere zogen auch noch erstmals ins Pokalfinale ein, die Last-minute-Rettung des VfB Stuttgart, die Begeisterung, die die Rückkehr von Schalke und Bremen in die Erstklassigkeit an den jeweiligen Standorten auslöste. Für mich persönlich auch noch das enge Rennen zwischen den „Traditionsvereinen“ Preußen Münster und Rot-Weiss Essen in der Regionalliga West – mit ausverkauften Häusern am letzten Spieltag. In Münster passierten 14.300 die Stadiontore, in Essen 16.500. In beiden Fällen überstieg das Interesse an Tickets deutlich die Kapazität des Stadions. Bremen und Münster: Die Begeisterung war hier in den Spielzeiten 2003/04 bzw. 2010/11 ähnlich groß – Werder holte das „Double“, Preußen stieg in die 3. Liga auf. In Bremen wollten nun etwa 120.000 das letzte Spiel der zweiten Liga sehen. 12.000 versammelten sich vor dem Rathaus und marschierten geschlossen zum Weserstadion.
Vielleicht ist die Begeisterung auch einem Generationswechsel geschuldet. Junge Bremer mit ein bisschen Ahnung vom Fußball werden kaum davon ausgehen, dass der SV Werder in den nächsten Jahren noch einmal Deutscher Meister wird. Bleibt die Bundesliga in ihrer aktuellen Form bestehen, einschließlich 50+1, wird Werder wohl nie mehr Meister werden. Und junge Preußen-Fans haben ihren Klub nie als Zweit- oder Erstligisten erlebt.
100.000 Eintracht-Fans in Sevilla?
Und die internationale Performance des deutschen Ligafußballs? Für Begeisterung sorgten nicht die Bayern und der BVB, sondern Eintracht Frankfurt eine Etage tiefer in der Europa League. Zum Finale gegen die Glasgow Rangers erwartet man nun in Sevilla über 100.000 Eintracht-Fans. Zumindest bezüglich der Bayern dürfen wir behaupten: Hätten diese das Finale der Champions League erreicht, würde die Begeisterung darüber deutlich geringer ausfallen.
Die Topklubs der Champions League spielen zweifelsohne den besten Fußball. Trotzdem ist auch die Europa League eine attraktive Sache – wenn auch nicht für Real, Barça, Chelsea, Bayern und den BVB. Aber für viele, viele andere. Ein Blick auf das diesjährige Teilnehmerfeld: Celtic und Rangers Glasgow, Olympique Marseille, Olympique Lyon, SSC Neapel, Fenerbahçe und Galatasaray aus Istanbul, West Ham United, Leicester City, AS Monaco, PSV Eindhoven, Betis Sevilla … Klingt ein bisschen nach dem alten Europapokal. Eine weitere Etage tiefer, in der Conference League, spielt AS Rom gegen Feyenoord Rotterdam im Finale. Hört sich ebenfalls nicht schlecht an. Die in diesem Jahr erstmals ausgetragene „drittklassige“ Conference League wurde zunächst belächelt. Die kleineren Fußballnationen begrüßen sie, denn der dritte Wettbewerb eröffnete auch ihren Klubs die Möglichkeit, europäisch zu spielen.
Was erzählt und lehrt uns diese Saison?
- 1. Manchmal ist es gar nicht so wichtig, in welcher Liga du spielst.
- 2. Der Fußball lebt von der Spannung. Nichts Neues, aber diese Saison hat uns noch einmal eindringlich daran erinnert.
- 3. Der Fußball kann auch ohne die „ganz Großen“ begeistern und existieren. Emotional benötigt er keine Champions League und schon gar nicht eine Super League.
„Mittelständische Klubs“ sollte das zu einem selbstbewussteren Auftreten gegenüber den ganz Großen ermutigen. Ich habe bereits vor einiger Zeit gesagt, dass die Bundesliga auch ohne die Bayern und den BVB kann. Ich bin hier ganz bei Bochum-Manager Ilja Kaenzig, der im Interview mit 11 Freunde erklärt: „Es gibt bestimmt ein Publikum für eine Super League, dem es egal ist, dass Spieler 100 Mio. Euro kosten. Ich bin der Meinung, dass es sogar Sinn machen würde, wenn die großen Klubs die nationalen Ligen verlassen. Durch eine Bundesliga ohne Bayern würde etwas in Gang kommen. Was die vermeintlichen Gründer der Super League betreiben, hat mit uns sowieso nichts mehr zu tun.“
Was aus dieser Saison auch noch bleibt: Der Hamburger SV konnte sich im vierten Anlauf endlich für die Relegation qualifizieren. Vielleicht lag es auch daran, dass sich der Verein endlich mal nicht wie ein „großer Traditionsverein“ verhielt. Sportdirektor Jonas Boldt und Trainer Tim Walter durften auch weitermachen, als die Ergebnisse nicht stimmten. Das war neu beim HSV. Als Werder abstieg, identifizierten viele Frank Baumann als Hauptschuldigen. Aber der Verein hielt an Baumann fest, was sich auszahlte. Die Rückkehr in die Bundesliga erfolgte früher als vielfach erwartet. Den VfB Stuttgart trennten drei Spieltage vor Schluss vier Punkte vom rettenden Ufer. Gerade hatte man beim direkten Konkurrenten Hertha BSC verloren. In einer solchen Situation denken neun von zehn Vorständen: „Jetzt hilft nur noch ein Trainerwechsel!“ Doch Pellegrino Matarazzo durfte weitermachen. Wäre er entlassen worden, und mit ihm eventuell auch noch Sportdirektor Sven Mislintat, hätte das möglicherweise das Ende des „Stuttgarter Wegs“ bedeutet – offensiver Fußball mit jungen Spielern, Werte schaffen durch gutes Scouting und die Entwicklung von Talenten. Vor einigen Monaten sprach Mislintat über die für „Traditionsvereine“ typische „Diskrepanz zwischen Realität und Wunschdenken“. Er sah einen Unterschied zwischen „der emotionalen, historisch bedingten Wahrnehmung“ des VfB, „und dem, was wir aktuell zu leisten in der Lage sind“. Für seinen Arbeitgeber sei es schlicht nicht möglich, Spieler für 20 Mio. Euro zu holen.
Belohnt wurde in dieser Saison, wer nicht immer gleich alles über Bord schmiss, wenn es mal nicht optimal lief.