Nun ist es amtlich. Die Klub-WM 2023 wird in Saudi-Arabien stattfinden. Einem Land mit einer grausamen Bilanz in Sachen Menschenrechte. Das Regime in Riad wird häufig als „islamisch-konservativ“ verharmlost. Tatsächlich ist es eines der barbarischsten auf dem Planeten. Für Amnesty International hat die FIFA einmal mehr „ihre eigene Menschenrechtspolitik missachtet und sich mitschuldig an eklatantem Sportswashing gemacht.“
Die Ignoranz gegenüber dem Kopf-ab-Regime ist nicht neu und wurde vor einigen Jahren bereits vom FC Bayern vorgelebt. 2015 hängte der Klub an sein obligatorisches Trainingslager in Doha ein Testspiel in Riad an. Dafür kassierte man eine Gage im Millionenbereich. Laut Süddeutscher Zeitung wurden die Zahlungen über den Sponsor Volkswagen abgewickelt.
Der Besuch der Bayern fiel in eine Zeit, als sich der demokratische Teil der Weltöffentlichkeit über die Folterung des saudischen Blogger Raif Baldawi empörte. Baldawi hatte in seinem Internetforum Die Saudischen Liberalen u.a. für Religionsfreiheit bzw. einen säkularen Staat und geschlechtliche Gleichberechtigung geworben. 2014 wurde er wegen „Beleidigung des Islam“ zu zehn Jahren Haft und 1.000 Peitschenhieben – aufgeteilt in 20 Portionen à 50 Hieben – verurteilt, nachdem ihn ein islamisches Rechtsgutachten zu einem „Ungläubigen“ erklärt hatte. Das Gericht warf ihm vor, Muslime, Christen, Juden und Atheisten als gleichwertig zu betrachten. Für die Richter war dies ein Verstoß gegen das Anti-Terror-Gesetz. Der erste Teil der Strafe wurde einige Tage vor dem Eintreffen der Bayern vollstreckt. Die nächsten 50 Hiebe sollte Baldawi während des Besuchs kassieren, aber das Opfer war bei der ersten Auspeitschung so schwer verletzt worden, dass die Fortsetzung der Folter verschoben wurde. Einen Tag vor dem Spiel wurde in Mekka eine Frau öffentlich enthauptet. Damit sich die Enthauptung möglichst schmerzhaft gestaltete, wurde das Opfer nicht einmal narkotisiert. Es war seit Jahresbeginn bereits die siebte Hinrichtung in Saudi-Arabien.
Die Bayern focht das aber nicht an. Für Bayern-Coach Pep Guardiola war es „eine Ehre, hier zu sein.“ Nach der Rückkehr hagelte es Kritik. Dagmar Freitag (SPD), Vorsitzende des Sportausschusses des Bundestags: „Fußballer müssen ja keine Politiker sein, aber sie sollen sich der Menschenrechtslage bewusst sein und durchaus mal ein Zeichen setzen.“ Für Özcan Mutlu, dem sportpolitischen Sprecher der Grünen, hatte es der Branchenführer verpasst, mit einer Absage des Testspiels ein „starkes Signal für Demokratie und Menschenrechte zu setzen.“ Protest rührte sich aber auch bei den Fans des Klubs.
Zurück zur FIFA: Wir sollten endlich aufhören, diesen netten Bekundungen der FIFA in Sachen Menschenrechte, Anti-Diskriminierung etc. auch nur ein Fünkchen Glauben zu schenken. Die Entscheidung pro Saudi-Arabien fiel einstimmig. Infantino und Co. werden von einer stumpfen Gier nach Geld getrieben, so wie der „ganz große Fußball“ überhaupt. Dieser „ganz große Fußball“ ist übrigens eigentlich ein ziemlich phantasieloses Gebilde: Taucht ein (oft selbst verursachtes) finanzielles Problem auf, lautet die Antwort stets: „Wir müssen neue Geldquellen erschließen!“ Und dann landet mensch fast zwangsläufig in der Golf-Region und bei Autokraten. Internationale Sportfunktionäre und Autokraten/Dikatoren sind Gesinnungsgenossen. Für die Infantinos, Bachs und Co. sind Menschenrechte Firlefanz. In einer Welt, in der die Feinde von Demokratie auf dem Vormarsch sind lässt sich mit ihrer Missachtung viel Geld verdienen. Die FIFA hängt am Tropf der Despoten aus der Golf-Region.
Sind Fußball und Menschenrechte miteinander vereinbar? Ja! Sind FIFA und Menschenrechte miteinander vereinbar? Definitiv NEIN.
Müssen wir deshalb an den FIFA-Bossen verzweifeln? NEIN.
Denn das würde bedeuten, dass wir sie als Teil der Fußball-Familie betrachten. Als Familienmitglieder, die sich nur ein bisschen daneben benehmen. Und für die mensch sich in der Öffentlichkeit leider schämen muss.
Stattdessen sollten wir viel lauter sagen, dass diese Menschen mit uns nichts zu tun haben. Dass ihr Fußball nicht unser Fußball ist. Sofern wir ihnen zugestehen wollen, dass es Fußball ist, womit sie sich beschäftigen. „For the Good of the Game“ agieren sie definitiv nicht.
Wenn der Fußball in unterschiedliche Kulturen zerfällt, wenn die große Fußball-Familie immer mehr zur puren Fiktion und bloßem Inhalt von Sonntagsreden wird, dann sollten wir das nicht nur bedauern. Wir sollten diesen Prozess forcieren. „Nein, Gianni, wir gehören nicht zu Deiner Familie! Unsere ethischen Grundsätze, wie unsere Vorstellungen von der Kultur des Spiels sind andere. Wir verfolgen eine andere Agenda!“
Diesbezüglich fand ich die WM in Katar und die diese begleitende Boykott-Kampagne extrem ermutigend. Ich habe tatsächlich kein Spiel geschaut. Entzugserscheinungen hatte ich trotzdem nicht. Unterhalb der 3. Liga und in der Bundesliga der Frauen rollte der Ball ja weiter. Ich habe schon lange nicht mehr so viel Fußball LIVE gesehen (und intensiv genossen), wie in den Wochen der WM: Zweimal Regionalliga, zweimal Oberliga, einmal Bezirksliga sowie drei Spiele von Jugendmannschaften. Die Bundesliga der Frauen habe ich leider nicht geschafft.
Im gewissen Sinne bin ich der FIFA dafür dankbar, dass sie die WM in der (europäischen) Winterzeit anpfiff. Dies ermöglichte vielen Menschen, zu demonstrieren, mal bewusst, mal weniger bewusst, dass Fußball mehr als FIFA ist. Tausende Fans begleiteten die U23-Mannschaften des Hamburger SV und von Borussia Mönchengladbach zu ihren Auswärtsspielen in der Regionalliga. In Münster kamen gut 8.000 zum Spiel des Regionalligisten gegen den SC Wiedenbrück – bei bitterster Kälte. Und in Ostfriesland wurde ein Spiel in der Kreisliga D von 300 Menschen besucht. Dies sind nur vier von ganz vielen Beispielen.
Vor der WM spürte ich bei mir eine gewisse Fußball-Müdigkeit. Vielleicht sollte ich Abschied nehmen von diesem kaputten Spiel, bei dem der Sport immer mehr ins Hintertreffen geriet. Die WM machte mir neue Lust aufs Spiel– nur ganz anders, als Herr Infantino denkt.
Als den Menschenrechten verpflichtete Fans können wir die FIFA natürlich nicht einfach links liegen lassen. Wir müssen sie weiterhin kritisieren - aber mit einem anderen Verständnis. (Hier wäre eine Fortführung der #boycottqatar2022-Kampagne in eine Initiative „Fußball für Menschenrechte“ zu überlegen.) Die FIFA ist nicht unser Fußball-Weltverband. Sie ist keine Regierung, die wir anerkennen. Wir kritisieren sie in derselben Weise, wie wir bestimmte politische Regime kritisieren. Vor allem aber sollten wir nicht nur jammern und klagen. Stattdessen sollten wir selbstbewusst erklären: „Euer Fußball ist nicht unser Fußball! Fußball ist viel mehr als Euer Fußball. Und wir lassen uns unseren Fußball von Euch nicht verderben! Wir pflegen ihn nach unseren Regeln!“
In diesem Kontext wünsche ich mir auch ein stärkeres Attackieren der Monopole im Spiel. Aber dies ist ein anderes Thema.