Als ich vor einigen Jahren mitbekam, wie die Jugendlichen am PC das Managerspiel spielten, dachte ich: Hoffentlich wird der Fußball nie so wie dieses Spiel! Das Computerspiel war dem realen Spiel in Sachen Tempo und Hektik noch etwas voraus. Heute befindet sich die Realität auf der Überholspur.
Der Stoff, über den wir Fußballjournalisten berichten, besteht zu einem großen Teil aus dem Kaufen und Verkaufen von Spielern, Forderungen nach Entlassungen von Trainern und Sportdirektoren, Spekulationen darüber, wer der Nachfolger wird, sollte der Kopf tatsächlich rollen, vielleicht gar mit unserer Hilfe – ja, wir möchten auch ein wenig mitspielen. Zahlen im Text betreffen Ausgaben, Einnahmen, Gehälter und Vertragslaufzeiten und weniger Ergebnisse.
Um Sport geht es nicht mehr wirklich. Weshalb man auch keine Ahnung vom Spiel haben muss, vom mühsamen Aufbau und der Entwicklung von Mannschaften, von Taktik und Strategie (über den Spieltag hinaus), um medial mitzumischen. Bei diesem Spiel kann jeder mitmachen! Die Schwächen eines solchen Journalismus erkennt man dann, wenn’s bei einem Verein ruhig und gut läuft, gut im Sinne eines ordentlichen Platzes in der Tabelle, und mit einem hohen Maß an personeller Kontinuität. Das Medium ist verzweifelt, weil das Objekt langweilig ist, es angeblich nichts zu berichten gibt. Natürlich gibt es ganz viel zu berichten. Aber dafür bedarf es einer anderen Annäherung an das Spiel.
Da das Geschäft immer schnelllebiger wird, wird es für die Entscheider immer schwieriger. Mit dem Tempo steigt die Gefahr, dass man Fehler macht. Schon der kleinste Fehler, der bei näherer Betrachtung häufig nicht wirklich ein Fehler ist, kann den Verein vom Gleis schubsen. Ein bisschen ist das wie beim Gegenpressing, das ebenfalls die Zeit für Entscheidungen verkürzt, den Spielaufbau erschwert, wo manchmal nur noch der wilde Befreiungsschlag als Option bleibt und der Gegenpressende auf das Provozieren von Fehlern setzt.
Die Öffentlichkeit zeigt für diese Entwicklung wenig Verständnis. Stattdessen wird noch schneller die Entlassung des Trainers und / oder des Sportdirektor gefordert. Und natürlich Transfers!
Beispiel 1: Greuther Fürth
Wie geht man als Verein damit um?
Das Beispiel von Greuther Fürth zeigt, wie man auch in schnelllebigen Zeiten Kurs halten und bei sich bleiben kann. Dabei kommt der SpVgg sicherlich ihr Standort entgegen: Im Schatten des großen „Clubs“, über den man sich eher das Maul zerreißt, wo der Druck, erstklassig zu spielen, größer ist. Für nicht wenige Menschen gehört die SpVgg ohnehin nicht in die 1. Bundesliga, denn der Klub nimmt hier einem der großen Traditionsvereine den Platz weg. Ein Ligensystem nach US-Vorbild, also eine geschlossene Gesellschaft, möchten wir nicht haben, aber eine SpVgg Fürth, die anders in die erste Liga gekommen ist als beispielsweise RB Leipzig, stört auch irgendwie. Dabei war der Aufstieg der Franken Sport in seiner reinsten Form.
Die SpVgg hat nun nach 23 Spieltagen 13 Punkte auf ihrem Konto. Am letzten Spieltag unterlag sie beim FC Bayern mit 1:4, führte aber beim Gang in die Pause mit 1:0. Elf der 13 Punkte stammen aus den acht Spielen vor dem Ausflug in der Allianz Arena, von denen nur zwei verloren gingen. Den ersten „Dreier“ fuhr die SpVgg erst am 15. Spieltag ein. Wäre Fürth Schalke oder der Hamburger SV, hätten die Franken in dieser Saison schon zweimal den Trainer und einmal den Sportdirektor ausgetauscht.
Dass die SpVgg erstklassig spielt, ist keine Selbstverständlichkeit. Schon gar nicht, wenn man schaut, wer in dieser Saison die zweite Liga füllt: Schalke, HSV, Bremen, Nürnberg, Hannover, Düsseldorf …
In der vergangenen Saison war die SpVgg die spielstärkste Mannschaft der zweiten Liga. Aber der Einstieg in die Saison 2021/22 wurde überschattet vom Verlust der drei besten Akteure. Einer von ihnen war Linksverteidiger David Raum, der mittlerweile Nationalspieler ist. Raum ist ein Produkt der exzellenten Nachwuchsarbeit im Klub.
Fürth ging mit einem Kader in die Saison, der schwächer ist als im Aufstiegsjahr. Fürths Ex-Trainer Bruno Labbadia im Interview mit dem „Kicker“: „Hätte man all diese Spieler halten können, wäre es super spannend in Sachen Klassenerhalt geworden. Das hat mir leidgetan, weil die SpVgg sich nicht nach Herzenslust eine Mannschaft zusammenkaufen kann. Dem Aufstieg ging eine sensationelle Arbeit über zwei, drei Jahre voraus, das sehen nur viele Menschen mit Blick auf die Tabelle nicht.“ Sportdirektor Rachid Azzouzi setze immer wieder auf Talente aus der eigenen Jugend und unterklassigen Ligen, dieser Weg sei mit Blick auf den Mini-Etat alternativlos.
Der Einstieg wurde nicht nur durch die Abgänge erschwert. Ein Handicap war auch, dass, so Trainer Stefan Leitl, einige der neuen Spieler „aus Verletzungen kamen“ und „vielleicht auch monatelang nicht gespielt hatten“ (nordbayern.de). Diese Spieler musste man erst fit machen. Bei einigen Einheiten standen nur zwölf, 13 Spieler zur Verfügung. Inzwischen haben die „Nachzügler“ nach und nach „über die Trainingssteuerung und dadurch, dass sie die Verletzungen überwunden haben, deutliche Schritte nach vorne gemacht“, so Leitl. Aber zunächst konnte die Mannschaft nicht in den notwendigen Rhythmus kommen.
Nun könnte man sagen: Warum holt die SpVgg solche Spieler? Die Antwort ist einfach: Weil der Klub nur holen kann, was er sich auch leisten kann. Und hierzu gehören auch Spieler, die erschwinglich sind, weil sie einen gewissen „Makel“ haben.
Möglicherweise hat Stefan Leitl zunächst auch die Chance verpasst, die Spielweise seines Kaders der neuen Herausforderung anzupassen – anders als z.B. Arminia Bielefeld. Aber muss man deshalb den Trainer entlassen? Wenn die SpVgg am Ende dieser Saison mehr als 20 Punkte auf ihrem Konto hat, das wären vier mehr als Schalke bei seinem Abstieg verbuchen konnte, ist dies für mich keine geringere Leistung als der Gewinn der Meisterschaft durch Bayern München.
Sollte die SpVgg. am Ende der Saison 2021/22 absteigen, was höchst wahrscheinlich ist, kann sie die Saison möglicherweise trotzdem als Gewinn verbuchen. Der Aufstieg erlöste den Klub vor pandemie-bedingten finanziellen Problemen. Außerdem kann die SpVgg mit dem aus dem Erstligajahr eingenommenen Geld ihre Position im Unterhaus stärken und damit auch die Basis für einen Wiederaufstieg in die erste Liga – dann vielleicht unter besseren Voraussetzungen. Ein Abstieg bedeutet nicht immer, dass der Absteiger alles falsch gemacht hat.
Beispiel 2: Werder Bremen
Nun zu Werder Bremen, aktuell Spitzenreiter in der zweiten Liga. Nach dem Abstieg war Sportdirektor Frank Baumann der Buhmann schlechthin. Was auf ein generelles Problem verweist: die Personalisierung von Misserfolg.
Für Werders Abstieg gab es eine Reihe von Gründen, die nicht im Wirkungsbereich des Sportdirektors lagen. Hierzu gehörte auch die Pandemie, die für Werder erhebliche Einnahmeverluste bedeutete. Nicht nur wegen ausbleibender Zuschauereinnahmen, sondern auch, weil der Transfermarkt zusammenbrach und damit auch ein Geschäftsmodell. (Gladbach erlebte das ebenfalls.) Des Weiteren der Weggang des Unterschiedsspielers Max Kruse, der erheblich zur guten Saison 2018/19 beigetragen hatte und nicht zu ersetzen war. Und eine große Zahl von Verletzungen in der Saison 2019/20, als man noch einmal nach einem Platz in Europa greifen wollte. Einkäufe, die, auch verletzungsbedingt, nicht einschlugen, bzw. erst jetzt in dieser Saison (Toprak, Füllkrug).
Werders Probleme begannen spätestens mit der Saison 2010/11, als ein teures Ensemble die Qualifikation zur Champions League verfehlte. Das einige der damals Verantwortlichen heute so tun, als sei Werder in ihren Amtsjahren durchweg erfolgreich gewesen, befremdet, ist aber typisch für die Branche, die schnell vergisst. Weshalb man alles dafür tut, nicht in Vergessenheit zu geraten.
Frank Baumann stand im Sommer 2021 vor einer Herkulesaufgabe. Der Abstieg stand erst am letzten Spieltag fest. Und damit auch die Antwort auf die Frage, für welche Liga und für welches Ziel Werder planen musste. Bevor man neue Spieler holen konnte, mussten andere verkauft werden – auf einem durch die Pandemie veränderten Transfermarkt. Als die Vorbereitung startete, war das Team noch eine Baustelle. Die Vorbereitung wurde zusätzlich dadurch verkürzt, dass erste und zweite Liga zwar die Saison zeitgleich beendet hatten, das Unterhaus aber zwei Wochen früher wieder anfing. Dass Werder holperig in die Saison startete, war also alles andere als verwunderlich. Aus den ersten elf Spielen konnte Werder nur 15 Punkte verbuchen – das waren 1,36 pro Auftritt. Nach einem Drittel der Saison lag Werder zehn Zähler hinter dem Spitzenreiter und sieben hinter Platz drei – und hatte gerade mal sechs Punkte Vorsprung auf den Relegationsplatz in der Abstiegszone. Dass Werder nach inzwischen 23 Spielen auf Platz eins steht, ist eine stramme Leistung. Und auch ein Verdienst von Frank Baumann.
Beispiel 3: VfB Stuttgart
Ein gängiger Fehler bei der Bewertung der Arbeit von Sportdirektoren: Man konzentriert sich nur auf das Abschneiden der Mannschaft und die aktuelle Saison. Unberücksichtigt bleibt oft, was der Sportdirektor darüber hinaus leistet, beispielsweise die Veränderung existierender oder den Aufbau neuer Strukturen. Ebenso Entscheidungen, deren Wert und Richtigkeit sich erst in zwei, drei Jahren zeigen, also Entscheidungen strategischer und nachhaltiger Natur. Diese Stimmung und Erwartungshaltung kann die Sportdirektoren im Rattenrennen der Liga zu wenig durchdachten Aktionen verleiten – zu Entscheidungen, die ihn im Moment gut aussehen lassen, deren Wirkung aber schnell verfliegt. Manchmal kosten diese Entscheidungen viel Geld, belasten die mittelfristige Planung und blockieren die Weiterentwicklung von Verein und Mannschaft.
Vorstände und Aufsichtsräte beugen sich zu häufig der Stimmung im Umfeld eines Klubs. Sie entscheiden also emotional. Und manchmal auch gegen ihre wahre Überzeugung. Sven Mislintat, Sportdirektor des VfB Stuttgart, im Interview mit dem "Spiegel": „Wer Druck nachgibt, handelt eher politisch, die eigene Position erhaltend. Man scheut sich, das Richtige für seinen Klub zu tun, wenn es einen den Job kosten könnte.“ Mislintat konzentriert sich auf das, „was ich beeinflussen kann – folge einer klaren Strategie, mit klaren Handlungsprinzipien und einem klassischen Wertekompass.“ Auch wenn dies in der Tabelle vorübergehend mit Rückschritten verbunden ist.
Mislintats VfB, ein notorisch unruhiger Verein, liegt derzeit nur auf Platz 17 in der Tabelle, hat nur sechs Punkte mehr auf dem Konto als die SpVgg Greuther Fürth. Das „schreit“ geradezu nach Entlassung von Sportdirektor und Trainer … Bevor man zur Tat schreitet, sollte man sich im Schwabeland an Max Eberl und die Gladbacher erinnern. Eberls und Gladbachs Aufstieg begann mit einem Beinahe-Abstieg. Vermutlich verfolgt Mislintat die richtige Strategie, er setzt stark auf junge Spieler mit Entwicklungspotenzial. Möglicherweise wird diese Strategie in diesem Sommer erst einmal nur in die zweite Liga führen. Aber auch in diesem Fall ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich in zwei, drei Jahren als komplett richtig erweist und die erste Liga einen sportlich wie wirtschaftlich stabilen VfB erlebt.
Samira El Ouassil und Friedemann Karig berichten in ihrem Buch „Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen“ von einem Experiment von Psychologen der Universität Stanford: „Ein Kind von vier Jahren wird vor die einfache Wahl gestellt: Es kann entweder einen Marshmallow sofort haben oder, wenn es sich beherrscht, zwei Marshmallows später. Für Letzteres muss es nur 15 Minuten still am Tisch sitzen.“ Das Ergebnis war, „dass wir gegenwärtige Belohnungen gegenüber jeder zukünftigen um ein Vielfaches höher bewerten; und das Geduld uns umso schwerer fällt, je klarer wir die Belohnung vor Augen haben.“ Die Versuchspersonen verzichteten also auf den zweiten Marshmallow.
Im Fußball verfahren wir häufig ähnlich. Anschließend bleibt es der Spekulation überlassen, ob sich die Dinge nicht besser entwickelt hätten, wenn …