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Fußball

 

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Als der DFB von der Regenbogenbinde Abstand nahm, zu Gunsten der „One Love“-Binde, wurde Verband und Spielern Opportunismus vorgeworfen. Menschen gebärdeten sich als Kritiker, die uns zuvor als Freunde der LGBT-Community nie aufgefallen waren. Allen voran die minderheitenfreundliche „Bild“-Zeitung, die „Zu feige für den Regenbogen“ titelte und einen „Kotau vor den milliardenschweren Gastgebern“ sah.

Als die FIFA den Engländern drohte, verzichtete der DFB auch auf die „One Love“-Binde. Ein kleines Zeichen setzte die Mannschaft dann beim ersten Spiel gegen Japan trotzdem: Die Hand-vor- den-Mund-Geste, die sich im Übrigen weniger gegen Katar, sondern primär gegen die FIFA richtete.

Vielen war dies zu wenig. Gelobt wurde die mutige iranische Elf, an der sich die deutschen Spieler ein Beispiel nehmen sollten.

Zwei Spiele später war wieder alles anders. Die deutsche Elf besiegte Costa Rica mit 4:2, schied aber trotzdem aus, weil Japan gegen Spanien gewann. Nun war die Hand-vor-den Mund-Geste zu viel des Guten gewesen. Dies bedeutet: Das Urteil veränderte sich auf Grund des Ergebnisses im Parallelspiel. Hätten die Spanier den Ausgleich geschossen, hätte mensch über Binde und Geste nicht weiter diskutiert. Zumindest nicht so groß. Auch wäre „uns“ die Häme der „arabischen Welt“ erspart geblieben. Der U-Turn in der veröffentlichten Meinung war auch dieser Reaktion geschuldet. Niemand hinterfragte, ob beim Konter nicht auch eine gehörige Portion Homophobie eine Rolle spielte. (Anmerkung zur „arabischen Welt“: Gibt es so etwas wie die arabische Welt? Oder erlebt hier der alte „Anti-Imperialismus“ eine Neuauflage. Der katarische LBGT-Aktivist Nas Mohamed äußert sich in einem Interview zur hiesigen Debatte wie folgt: „Was mich stört, ist, dass Queerness als abstraktes politisches Thema begriffen wird. Die Leute vergessen, dass es um Menschen geht und machen daraus ein ‚West-gegen-Ost‘-Problem.“)

Hätte die DFB-Elf die Vorrunde und anschließend auch noch Achtel- und Viertelfinale überstanden, wäre die Hand-vor-den-Mund-Geste anders bewertet worden. Der Sound hätte wie folgt geklungen: „Die Mannschaft hat nicht nur sportlich geliefert, nein, sie hat auch Haltung gezeigt!“ Vermutlich hat der Kollegen René Martens Recht, wenn er im „Altpapier“ schreibt, dass „Opportunismus zur (….) DNA des deutschen Journalismus gehört“.
 

Überforderung und politische Widersprüche

Richtig ist: Wir (mich eingeschlossen) haben von der Mannschaft zu viel verlangt. Warum? Eine Fußballmannschaft ist ein sehr komplexes und heterogenes Gebilde. Dies gilt für das Team von 2022 noch viel mehr als für den Weltmeister von 1974, der ebenfalls politisch stritt – nur stand damals keine gemeinsame politische Aktion zu irgendetwas auf der Tagesordnung. Das einzige, was den Erfolg beeinträchtigen konnte, war der berühmte Prämienstreit, bei dem sich aber Team und Verband gegenüberstanden.

In der Mannschaft von 2022 gab es den 36-jährigen Manuel Neuer und den 18-jährigen Yousouffa Moukoko, hoch intelligente sowie gesellschaftspolitisch interessierte und engagierte Spieler wie Leon Goretzka, Spieler mit unterschiedlichem Bildungsniveau, von unterschiedlicher Intelligenz, mit unterschiedlichem sozialen, kulturellen und religiösen Background. Laut „Spiegel“ hat ein Spieler gesagt, er habe keinen Bock auf diesen schwulen Scheiß. Homophobie ist in unserer Gesellschaft unverändert präsent – warum sollte diese Haltung  in einem Team von 26 Fußballern überhaupt nicht vorkommen? Warum sollte dieses Team so viel besser sein als eine Gesellschaft, in der das Wählerpotenzial einer rechtsextremen Partei 15 bis 20 Prozent beträgt?
 

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Hätte ohne weiteres im Elfmeterschießen des Viertelfinales ausscheiden können: Weltmeister Messi. Foto: IMAGO / MB Media Solutions

 

Nichts anderes gilt für den DFB. Kampagnen gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie kommen nicht in jedem Vereinsheim an. Einer der Vizepräsidenten des Verbands heißt Helmut Winkler. Auf Instagram fällt der Rechtsaußen in der CDU immer wieder durch rechte Posts auf. Die MDR-Sendung Aktuelle Kamera sei eine Nachrichtensendung der DDR 2.0. (By the way: Winkler war schon Mitglied der Blockflöten-CDU, die die Politik der SED fröhlich abnickte …) Winkler verbreitet Fakenews über Rundfunkgebühren, mag den korrupten und homophoben ungarischen Autokraten Viktor Orbán, befürwortet eine Koalition seiner Partei mit der AfD, hat kein Problem damit, dem rechtspopulistischen Magazin „Tichys Einblick“ ein Interview zu geben. Das Magazin weiß, wen es beim DFB ansprechen kann. Kaum vorstellbar, dass Winkler ein Freund von bunten Binden ist. Der Verband besteht nicht nur aus Bernd Neuendorf.

Mensch sollte dies alles im Blick haben, bevor er über die Goretzkas und Co. sowie Neuendorf den Stab bricht. Ich will auch nicht ausschließen, dass die Debatten über die Binden die sportliche Vorbereitung des Teams beeinträchtigte. Kaum in Katar angekommen, galt es politische Widersprüche zu managen. Vor dem Spiel gegen Japan war die Binde das Thema – auch mannschaftsintern. Verantwortlich hierfür war nicht nur die FIFA, sondern auch die DFB-Führung, die es zwölf Jahre nicht geschafft hatte, eine Strategie in Sachen Katar zu entwickeln. Was möglicherweise dem Umstand geschuldet ist, dass es auch in der DFB-Führung Widersprüche gab. Hinzu kam die Fluktuation an der DFB-Spitze.

Dass es in der Mannschaft manchmal tobt, dass diese Mannschaft auch ein Abbild unserer Gesellschaft und ihrer politischen, sozialen und kulturellen Widersprüche ist, wissen wir im Übrigen bereits seit der WM 2018, bei der die letzte Vorbereitung und die Gruppenspiele von der Özil/Gündogan/Erdogan-Debatte überschattet wurden.
 

Nicht so schlecht wie behauptet

Zum Schluss zum Sport. Als Boykotteur habe ich die Spiele der DFB-Elf nicht gesehen. Meine Bewertung der Auftritte basiert auf Daten und Gesprächen mit Menschen, die Spiele sehr genau analysieren und denen ich einiges an Sachverstand attestiere. Demnach war jeder der drei Auftritte besser als die drei Auftritte bei der WM 2018. Gegen Japan spielte die Elf besser als gegen Mexiko, gegen Spanien besser als gegen Schweden, gegen Costa Rica besser als gegen Südkorea. Die Probleme waren aber unübersehbar. Auch hat Hansi Flick falsche Entscheidungen getroffen, vermutlich ist er auch kein großer Trainer. Aber es ist ja auch nur die Nationalelf.

Bei einem Turnier geht es darum, aus einer Mannschaft in einem begrenzten Zeitraum und einer begrenzten Spielzeit  das Optimum herauszuholen. Fehler lassen sich kaum korrigieren. Vielleicht sind hier Charisma und Emotionalität noch wichtiger als im Ligabetrieb. Ein Bundestrainer Jürgen Klopp hätte vielleicht mehr herausgeholt.

Was mir die Menschen mit Sachverstand ebenfalls mitteilen: Hätte die DFB-Elf die Vorrunde überstanden, was nicht weniger verdient gewesen wäre als das Weiterkommen der Japaner, wäre mehr als nur das Achtelfinale möglich gewesen – die Mannschaft wäre vielleicht zusammengewachsen, Flick hätte vielleicht die richtigen Korrekturen vorgenommen etc. Mensch könnte auch hier sagen: Hätte die DFB-Elf eine ihrer vielen Chancen gegen Japan für ein zweites Tor genutzt, wäre die Erzählung heute eine andere. Auch Weltmeister Argentinien verlor sein Auftaktspiel – gegen Saudi-Arabien, einen noch größeren Underdog als Japan. Der Spielverlauf ähnelte der Begegnung Deutschland gegen Japan. Auch Argentinien ging zunächst in Führung (ebenfalls durch einen Strafstoß), verpasste dann aber die Chance, diese auszubauen. Das Viertelfinale gewann man erst im Elfmeterschießen.

Es ist die alte Leier. Wir erzählen Spiele von ihrem Ergebnis her – in einem low scoring game, in dem viele Tore auf Zufällen beruhen. Spielt der FC Bayern im DFB-Pokal gegen den SV Sandhausen und unterliegt mit 0:1, trotz eines Ballbesitzes von 80 % und eines Chancenverhältnisses von 12:1 (darunter dreimal Innenpfosten), wird niemand den Mut aufbringen und sagen: „Die bessere Mannschaft hat verloren. Sandhausens Sieg war eigentlich unverdient.“ Die Erzählung wird lauten: „Glücklicher, aber verdienter Sieg des Underdogs!“

 

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