Hamit Altintop und Nuri Sahin sprechen fließend deutsch. Besser als mancher Bio-Deutscher. Bislang hat kaum jemand behauptet, sie seien nicht integriert. Aus westdeutscher Sicht sind sie sicherlich integrierter als einige Sachsen. Hamit Altintop entschied sich aber trotzdem für eine Nationalspielerkarriere mit der Türkei. Altintop: „Ich bin Deutschland sehr, sehr dankbar, ich habe hier sehr viel gelernt und sehr viele Chancen bekommen. Aber meine Mama kommt aus der Türkei, mein Vater kommt aus der Türkei, ich bin Türke." Altintop kritisierte Mesut Özils Entscheidung, für die deutsche Nationalmannschaft, und nicht für die türkische, zu spielen: „Ich bin ein toleranter Mensch und respektiere Mesuts Weg, aber unterstützen kann ich ihn nicht.“
Auch Nuri Sahin entschied sich für die türkische Elf. Als Theo Sarrazin seine kruden Thesen veröffentlichte, konterte Sahin: „Ich finde das nicht in Ordnung. Wir Muslime passen uns an. Die dritte Generation ist sehr gut in Deutschland integriert, viel besser als die früheren Generationen. In unserer Generation wird es keine Probleme mehr geben.“ Michael Horeni, der Sahin für die „FAZ“ interviewte: „Er sagt das sehr ruhig, und er sagt das auch nicht zum ersten Mal. Es ist seine Generation, von der er spricht, und deren Integrationsleistungen er verteidigt. Und man merkt, dass ihm etwas daran liegt, ein Gegengewicht zu schaffen in einer Integrationsdebatte, die derzeit geprägt ist von den Schattenseiten, von Abgrenzung, Verweigerung, von Parallelgesellschaften.“
Nationalismus oder Pragmatismus?
Sahin kommentierte Özils Pro-Deutschland-Entscheidung anders als Altintop. „Ich bin mit Mesut, Serdar (Tasci) und Jerome (Boateng) befreundet, aber ich habe von der U15 an für die Türkei gespielt. Mesut, Serdar und Jerome haben in den U-Mannschaften für Deutschland gespielt.“ Es hätte „nicht gepasst“, wenn er sich dann für Deutschland entschieden hätte, und umgekehrt auch nicht. „Die Jungs haben es nicht bereut, und ich habe es auch nicht bereut. Und das Wichtigste ist, dass man sich wohl fühlt“.
Das klingt nicht nach Nationalismus, sondern nach Pragmatismus. Für welches Land sich Fußballprofis entscheiden, hat häufig nichts mit Nationalismus zu tun. Welcher Verband hat sich eher für mich intetressiert? Bei welchem Verband habe ich die größeren Chancen? Mit welcher Mannschaft besteht die Möglichkeit, auf der WM- oder EM-Bühne zu spielen? Der „Deutsch-Russe“ Konstantin Rausch stand in einigen U-Mannschaften des DFB, u.a. in der U21, wurde dann aber russischer Nationalspieler. Rausch: „Wenn man mich damals zur A-Nationalmannschaft (des DFB, Anm. d.A.) berufen hätte, hätte ich mit Sicherheit ja gesagt.“ Umgekehrt wurde Paulo Rink 1998 deutscher Nationalspieler, weil er für Brasiliens A-Elf zu schlecht war.
Als mein ältester Sohn 17 war, erhielt er zweimal eine Anfrage vom nordirischen Fußballverband für deren U19-Auswahl. Er sei ja in Nordirland geboren, wäre deshalb möglicherweise berechtigt, für die Auswahl der Irish Football Association (IFA) zu spielen. Seine Eltern sind Bio-Deutsche, beide aus Westfalen (Familie der Mutter allerdings ursprünglich aus Gelsenkirchen – aber ohne „owski“ am Ende des Namens) Das Ganze hat sich dann allein schon auf Grund bürokratische Hürden zerschlagen. Ohne diese hätte ich ihn dazu ermutigt. Die Chance, Nordirlands Nummer eins zu werden, war nun mal erheblich größer, als ter Stegen oder Neuer aus dem deutschen Tor zu verdrängen. Ganz abgesehen davon, dass wir Irland – den Norden wie den Süden – mögen. Als Landesverrat hätte man dies nur empfunden, wenn er besser als Neuer und Ter Stegen gewesen wäre… Wenn Fußballspieler hier pragmatisch entscheiden, ist dies ein Fortschritt. Es sei denn, man will die Nationalmannschaften in einer Welt, in der Migration und „Rassenvermischung“ nicht erst seit gestern Normalität sind, zur letzten völkischen Bastionen aufbauen.
Der Türke soll Türke bleiben
Einige Jahre nach dem „FAZ“-Interview postete Nuri Sahin: „Den Märtyrern Gottes Segen, den Verwundeten baldige Genesung, den Angehörigen sein Beileid und dass Allah ihnen Stärke gibt, das auszuhalten“. Das Posting galt den gefallenen türkischen Soldaten in Afrin (Nordsyrien), die dort gegen kurdische Milizen kämpften. Und hörte sich weniger sympathisch an als seine Ausführungen in Sachen Sarrazin bzw. Integration. Die Aufregung darüber hielt sich in Grenzen. Schließlich war Sahin nur türkischer Nationalspieler.
Dass sich Altintop und Sahin für eine Nationalmannschaftskarriere mit der Türkei entschieden, stieß kaum auf Widerspruch. Vielleicht weil sie sportlich verzichtbarer waren als Özil und Gündogan. Wahrscheinlicher ist aber, dass dies manchem Fan der deutschen Nationalmannschaft lieber war als eine Entscheidung pro Deutschland. So blieb der Türke Türke. Und die Welt einfach und überschaubar. Auf „facebook“ berichtete mir jemand von einer von ihm initiierten Diskussion über Gündogan / Özil. Ein bekannter AfD-Sympathisant schrieb in dieser: „Ich werde es nie begreifen, warum Türken überhaupt in der Nationalmannschaft spielen dürfen.“ Auf den Einwand hin, dass beide Deutsche sind, antworte der AfD-Freund: „Kennen Sie die Lebensgeschichte von Fibs ??? Fibs ist eine Ratte, die im Pferdestall geboren wurde. Fibs ist aber kein Pferd.“
Was tatsächlich hinter der Gündogan/Özil-Geschichte steckt, wissen wir nicht wirklich. Allerdings ist bekannt, dass Profi-Fußballer vom Erdogan-Umfeld unter Druck gesetzt, ja bedroht werden. Gündogans Verbeugung vor Erdogan könnte auch damit zu tun haben, dass er noch 2014 auf einer Veranstaltung deutsch-türkischen Kulturolympiade auftrat, deren Ausrichter aus dem Dunstkreis der Gülen-Bewegung kamen. Wie gesagt: Könnte…
„Poldi“ auf Abwegen
In diesem Zusammenhang sind auch die weitgehend in Vergessenheit geratenen Pro-Erdogan-Aktivitäten von Lukas Podolski interessant, der bekanntlich kein Deutsch-Türke ist, aber von 2015 bis 2017 für Galatasaray Istanbul spielte. Ende Juli 2017 berichtete FAZ.net über ein ungewöhnliches Foto, das Podolski im September 2015 von sich hochlud: „Es zeigt ihn mit ernstem Blick vor zwei türkischen Fahnen – salutierend, in quasisoldatischer Haltung. Vier Tage zuvor waren in der südostanatolischen Provinz Hakkari 16 türkische Soldaten durch eine Sprengfalle getötet worden. Die Türkei trauerte. Einer der Journalisten, die damals darüber berichteten, war Deniz Yücel, der inzwischen seit mehr als einem halben Jahr unter landesüblich absurden Anschuldigungen in einem türkischen Gefängnis einsitzt. In der Provinzstadt Turgutlu, östlich von Izmir, sprach er mit dem Vater eines der in Hakkari getöteten Soldaten. ‚Es war mir nicht vergönnt, meinen Sohn zu verheiraten‘, zitierte Yücel den Vater, ‚aber lang lebe das Vaterland. Wenn es sein muss, opfere ich auch meinen anderen Sohn. Das Einzige, was ich jetzt will, ist die Leichen der Terroristen sehen.‘ Ein Zitat, das erschreckende Einblicke in die Abgründe des Hasses bietet, die sich durch die Türkei ziehen. Auch Podolski kommentierte das Massaker an den Soldaten. Oder besser: Er ließ es kommentieren. Unter seinem Bild stand auf Türkisch: ‚Mein Herz ist mit euch, erhabene Soldaten, die für die Fahne gefallen sind! Mein Beileid der türkischen Nation.‘ Erhabene Soldaten, die für eine Fahne fallen? In der Türkei ist eine solche Sprache normal, aber in Deutschland, dem Hauptabsatzmarkt von podolski.com, nicht mehr. Im Jahr 2015 schieden sich an diesem Tweet die Geister. Einige feierten podolski.com, andere zürnten. Denn die getöteten Soldaten waren eben nur ein Teil der Wirklichkeit. Der andere: Überall in der Türkei wurden Büros der Kurdenpartei HDP von nationalistischen Mobs überfallen und verwüstet, die Fenster kurdischer Geschäfte eingeschlagen. Kurdische Politiker erhielten Morddrohungen. Staatliche Sicherheitskräfte begingen in Südostanatolien üble Verbrechen. Ganze kurdische Siedlungen wurden in Schutt und Asche gelegt. Bei podolski.com klang es dagegen so, als leide in der Türkei allein die Armee. Als die Hetzmeuten des Internets über seinen Tweet herfielen, teilte der Fußballer schließlich via ‚Bild‘-Zeitung mit: ‚Sorry, das sollte keine politische Aktion sein, sondern eine Ehr- und Beileidsbekundung für gefallene türkische Soldaten. Der erste Text wurde mir vom Verein vorgegeben. Jetzt habe ich ihn geändert.‘ Demnach hatte Podolski – ehrliche Haut, die er ist und aus der er nicht kann – sich seinen Tweet also von Galatasaray Istanbul vorschreiben lassen, frei nach der alten Redensart: ‚Wes Brot ich ess, des Lied ich tweet.‘ Doch als der Unmut im Netz zu groß wurde, ging der Mann, der immer sagt, was er denkt, aber womöglich nicht immer denkt, bevor er etwas sagt, in die Verteidigung und ließ seinen Tweet entschärfen. Die neue Formulierung lautete: ‚Allen Soldaten, die ihr Leben verloren haben, mein Herz ist mit euch. Beileid der Türkei.‘ Nach dieser Episode konzentrierte podolski.com sich wieder auf den Fußball. Als er im vergangenen Jahr in einem Interview gefragt wurde, ob er die Debatte um Erdogan verfolge, antwortete er laut der veröffentlichten, also wohl vom Management geprüften und autorisierten Fassung: ‚Nicht wirklich. Ich sehe die Berichte, die bei uns in der Kabine im Fernseher rauf- und runterlaufen, verstehe aber kein Wort. Diskussionen über die Politiker gibt es in jedem Land, auch in Deutschland. So ist das überall.‘ Klar. Kann man so sehen. Was aber zum Glück nicht überall so ist: Dass Zehntausende Beamte vom Dienst suspendiert oder entlassen werden, in Haft oder geflohen sind. Dass, wer gegen das gewählte Regime seines Landes ist, damit rechnen muss, unter aberwitzigsten Begründungen (oder ganz ohne Begründung) verhaftet zu werden. Dass Menschenrechtsorganisationen von Folter in Gefängnissen berichten. Dass ein Präsident sich für die Wiedereinführung der Todesstrafe ausspricht, die Europäer als Faschisten und Oppositionelle als Terroristen beschimpft. Gerade weil das nicht überall so ist, hat das EU-Parlament die Aussetzung der Beitrittsgespräche mit der Türkei gefordert. Und was macht Podolski? Werbung. Für die Türkei. Erdogans Türkei. Der Mann, der sich nach eigenem Bekunden ‚nicht wirklich‘ für die politischen Entwicklungen der Türkei interessiert, tritt in einem Fernsehspot auf, der ihn und seinen bis vor kurzem ebenfalls bei Galatasaray spielenden niederländischen Kollegen Wesley Sneijder zeigt. Der Clip ist simpel. Podolski sagt: ‚Ich habe hier meine eigene Glücksgeschichte geschrieben.‘ Es folgen Spielszenen, in denen Sneijder und er Tore für Galatasaray schießen. Dazu werden Jubelparolen eingeblendet, die belegen sollen, wie toll die Türkei ist: ‚Eine junge und dynamische Bevölkerung von 80 Millionen. Ein Außenhandel von 400 Milliarden. 35 Millionen glückliche Touristen. Der Investitionspartner der größten Unternehmen der Welt. Die Türkei, das Paradies der Möglichkeiten.‘ Am Ende sagt Podolski: ‚Komm in die Türkei‘, und Sneijder sekundiert: ‚Entdecke deine eigene Geschichte.‘“ Die Geschichte mit dem Tweet ereignete sich vor der EM 2016. Trotzdem hatte niemand Probleme damit, dass der „Poldi“ mit nach Frankreich fuhr.
„Politische Schizophrenie“
Nun ist es mitnichten so, dass dem deutschen Staat und dem deutschen Bürger die Demokratie in der Türkei schon immer am Herzen lag. Als im September 1980 das türkische Militär putschte, genoss das Unternehmen die Unterstützung der deutschen Regierung. Der damalige Bundesfinanzminister Hans Matthöfer (SPD), der zuvor einen Milliardenkredit für die Türkei koordiniert hatte, erklärte nach Bekanntwerden des Putsches der „FAZ“, „er hoffe auf einen heilsamen Schock, aus dem ein Arrangement hervorgehe, an dem sowohl die demokratischen Kräfte als auch die Armee beteiligt seien.“ Das klang stark nach DFB-Boss Hermann Neuberger, der im Vorfeld der WM 1978 den Militärputsch im Austragungsland Argentinien so kommentierte: Durch Diktaturen würden die Menschen „ab und zu mal wieder wachgerüttelt in Richtung gesundem Demokratieverständnis, wenn sie vorher vom Weg abgekommen sind.“ (Einige Tage nach dem Putsch des türkischen Militärs flanierten ein Freund und ich an einem SPD-Stand in Frankfurts Bergerstraße vorbei. Matthöfer war auch da. Mein Freund rief ihm zu: „Na, Hans, schön geputscht?“ Matthöfer war außer sich und wollte sich mit uns boxen, aber sein Security-Personal hielt ihn zurück.) Die sozialliberale Bundesregierung und die Junta unterzeichneten einen Vertrag über Polizeihilfe, darunter Waffen, Munition und Fahrzeuge, im Wert von 15 Millionen DM. Damals wurden in der Türkei 650.000 Personen festgenommen. Viele inhaftierte Oppositionelle mussten Folter erleiden. 460 Personen wurden allein im ersten Jahr der Diktatur bei militärischen Operationen exekutiert. Besonders in den kurdischen Gebieten herrschte ein Willkürregime mit Massenverhaftungen, Dorfrazzien und Todesschwadronen.
Niemand wird Nuri Sahin unterstellen, er befürworte die Installierung eines autokratischen Regimes in Deutschland, nach türkischem Vorbild. Dies gilt auch für Gündogan, der ein ziemlich deutliches Bekenntnis zur bundesdeutschen Demokratie abgeliefert hat. Und diese wohl deutlich mehr zu schätzen weiß als jeder AfD-Abgeordnete und mancher CSUler. Nach dem Pfeifkonzert von Leverkusen twitterte Gündogan: „Letztes Spiel vor der Weltmeisterschaft und immer noch dankbar, für dieses Land zu spielen." Aber was sein Verhältnis zu Erdogan angeht, bleibt Gündogan unbefriedigend vage. Ob aus wirtschaftlichen Interessen, Gündogan will angeblich in der Türkei investieren, Überzeugung oder Furcht vor dem nächsten shit storm und Bedrohung – man weiß es nicht. Auch Hans Matthöfer wollte hier keine Militärdiktatur errichten. Ich will hier weder Sahin, Gündogan, geschweige denn Matthöfer entlasten, und auch nicht Angela Merkel, die den Despoten mit Waffen versorgt – denn der Kampf um Menschenrechte ist für mich eine universelle Angelegenheit. Aber „politische Schizophrenie“ – ein Begriff, der natürlich viel zu kurz greift und die Dinge arg verharmlost – ist kein Privileg von „Deutsch-Türken“. Politiker der „Linken“ sehen gerne über Putins autokratischen Regierungsstil hinweg. Trotzdem glaube ich nicht, dass sie hierzulande die Pressefreiheit abschaffen und die Homophobie fördern wollen. (In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an einen öffentlichen „Landesverrat“ deutscher Rassisten: Bei den ersten Pegida-Demos wurden russische Fähnchen geschwenkt und Putin, ein fremdes Staatsoberhaupt, um Hilfe gebeten...)
Der Nationalismus vieler „Deutsch-Türken“, der keinen Unterschied zwischen einem Demokraten und einem Diktator macht, ist mir fremd. (Zum besseren Verständnis dessen, was mit einem Teil der „Deutsch-Türken“ los ist, empfehle ich wärmstens einen Text von Mahir Tokatli zur Özil / Gündogan-Geschichte auf der Seite regierungsforschung.de: „Wenn Fußballer einen Autokraten treffen – Integration gescheitert?“) Zumindest ein bisschen ist er aber auch hausgemacht und eine Rückversicherung in einem Land, das Türken lange Zeit nicht einmal den Status von „Deutsch-Türken“ zusprechen wollte. Und in dem der „Deutsch-Türke“ bereits in den Verdacht fehlender Loyalität gerät, wenn er die Nationalhymne nicht mitsingt (Was von der WM-Elf 1974 niemand gemacht hat.) Würde er die Hymne mitsingen, würde es vermutlich heißen: „Nur wegen des Singens ist der noch lange kein Deutscher…“
Demokratischer Protest oder Rassismus?
Wenn in Zukunft nur noch lupenreine Demokraten für Deutschland auflaufen dürfen, wäre das natürlich toll. Ich bezweifle aber, dass es darum geht. Ansonsten müsste man die gesamte Nationalelf einem Gesinnungstest unterziehen. Man darf gespannt sein, wie sich der deutsche Fan-Block verhält, wenn der erste Nationalspieler eine Nähe zu rechtspopulistischen Positionen erkennen lässt. So wie der Schweizer Nationalspieler Stephan Lichtsteiner, der behauptet, Spieler mit Migrationshintergrund könnten keine Identifikationsfiguren sein, zwischen „richtigen“ und „anderen Schweizern unterscheidet und sich selbst als Eidgenossen bezeichnet – in Abgrenzung zu den „ics“ in der „Nati“.
Bis dahin bleibt aber das ungute Gefühl, dass das hauptsächliche „Verbrechen“ von Özil und Gündogan darin besteht, dass sie sich seinerzeit für die deutsche Nationalelf entschieden. Und ihr Treffen mit Erdogan nur den willkommenen Anlass bietet, um ein immer schon existierendes rassistisches Unbehagen über diese „Deutsch-Türken“ im Nationaltrikot zu äußern. Hier spielen deutsche Rassisten mit dem türkischen Despoten und Nationalisten Erdogan Doppelpass. Die Pfiffe gegen Gündogan und Özil werden dazu führen, dass sich in Zukunft jeder „Deutsch-Türke“ noch genauer überlegt, ob er für die Auswahlteams des DFB auflaufen soll. Warum soll man ein Publikum bespaßen, das einen nicht mag? Die Völkischen von der AfD und Erdogan werden das geil finden. Klare Fronten, Schluss mit Integration und Mischkultur! Die Schweiz hat bereits diese Debatte, nachzulesen im WM-Heft des österreichischen Magazins „Ballesterer“. Obwohl das Land maßgeblich seinen Migranten zu verdanken hat, dass es seit 2006 ein WM-Abonnement besitzt. Die Immigrantenkinder, „Secondos“ genannt, professionalisierten die im eidgenössischen Fußball existierende Mentalität, denn diese Kicker kamen mit Ex-Jugoslawien, Italien, Spanien, Türkei etc. aus Ländern, in denen der Fußball einen höheren Stellenwert besaß als in der Schweiz. Die Immigrantenkinder zeigten sich sehr leistungsorientiert und verfolgten konsequent das Berufsziel Profifußball. Zwei Drittel des WM-Kaders 2018 sind „Secondos“; aber Zielscheibe sind vorerst nur Spieler mit Wurzeln auf dem Balkan. Eine Parallele zu Deutschland, wo es im Augenblick auch „nur“ um die „Deutsch-Türken“ geht, nicht um Boateng und andere.
Fußball in einer komplizierten Welt
Ende der 1980er verkündete der damalige DFB-Boss Herman Neuberger: „Es ist eine Identitätsfrage des Fußballsports, dass er überwiegend von Angehörigen der eigenen Nation ausgeübt und präsentiert wird. Das gilt mit Selbstverständnis für die Nationalmannschaft.“ Heute gilt dies „mit Selbstverständnis“ nur noch für Menschen, die nicht akzeptieren können, dass viele Menschen nicht nur einer „nationalen Identität“ frönen. Oder ihre „nationale Identität“ von ihrer Staatsangehörigkeit trennen. Oder gleich zwei Staatsangehörigkeiten besitzen. Oder gleich zwei Länder „in ihrem Herzen tragen“. Wie Lukas Podolski. Als „Poldi“ bei der EM 2008 gegen die Polen zwei Tore erzielte, wollte er doch tatsächlich nicht jubeln! Die Nationalhymne sang der Halunke auch nicht mit! Und was ist mit den Belgiern, wo die traditionelle Lagerbildung zwischen Flamen und Wallonen, die in der Vergangenheit das Teambuilding erschwerte, durch eine dritte Gruppe unterminiert und verwässert wurde: die Gruppe der Spieler mit Migrationshintergrund, die die größte im Kader ist. Das Nationalteam entwickelte eine multikulturelle Identität jenseits der alten Identitäten von Flamen und Wallonen.
Die Welt ist komplizierter geworden, aber deshalb nicht schlechter. Helmut Kohl hatte noch eine echt-deutsche Hannelore geheiratet. Sohn Peter heiratete eine Türkin. Vater Helmut unterzeichnete bei dieser Gelegenheit einen Spendenaufruf für türkische Soldaten, was als Geste der Versöhnung interpretiert wurde. Der andere Kohl-Sohn, Walter, ging mit einer Koreanerin den Bund fürs Leben ein. Ob aus diesen Eheschließungen fußballerisch begabte Söhne hervorgingen, ist mir nicht bekannt. Wenn ja, wäre es interessant zu erfahren, für welches Land sich diese entscheiden. Ich behauptet mal: Wenn sie an Weltklasse heranreichen, also an Özil und Gündogan, dann für Deutschland. Wenn sie „nur“ gut sind, so wie Rausch, dürfen sich die Türkei und Südkorea freuen.
PS: Man hatte es ja geahnt. Natürlich musste sich auch Fußball-Populist Mario Basler zur Causa Gündogan / Özil zu Wort melden. Beim Fußball-Stammtisch „Doppelpass“, wo sich Altstars in Erinnerung rufen und ihre „Ich war ein ganz toller Hecht“- und „Früher war alles besser“-Attitüde austoben dürfen. Özil? Basler: „Özil ist überbewertet. Da kann er noch 100 Länderspiele machen. Für mich ist er ein Mitläufer. Er hat sicher außergewöhnliche Fähigkeiten. Aber in großen Spielen, bringt er sie nicht auf den Platz.“ Hier lohnt sich nicht nur ein Blick auf Baslers eigene Nationalspielerkarriere, sondern auch auf Özils Leistungsdaten. (Womit ich nicht die Noten der Presse meine, sondern harte facts: gespielte Pässe, angekommene Pässe, gelaufene Kilometer etc.) Özil gehört zu den Spielern, die auf Grund ihrer Körpersprache, Mimik etc. beim Laien als „lethargisch“ gelten. Toni Kroos gehörte bis zur WM 2014 auch dazu. Aber als die ganze Welt vom Toni schwärmte, änderte auch der deutsche Fußball-Michel seine Sichtweise. Özils Beitrag zum WM-Titel 2014 wurde vielfach verkannt. Özil musste eine Rolle spielen, die nicht seinen eigentlichen Qualitäten entsprach. Schaut man sich die Leistungsdaten an (anstatt nur dem optischen Eindruck zu vertrauen), tat er dies ziemlich ordentlich. Dass Özils Leistungen traditionell besonders kritisch bewertet werden, hat wohl auch mit seiner Herkunft zu tun. Um Anerkennung zu gelangen, muss so ein „Deutsch-Türke“ schon gehörig mehr leisten als ein „Bio-Deutscher“. Frei nach unserem AfD-Freund: Ratte bleibt Ratte, auch wenn man im Pferdestall geboren wurde.