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Es scheint unausweichlich: Kaum ein Artikel über das kommende Champions-League-Finale kommt ohne die mystische Geschichte vom Abendessen der beiden Fußball-Genies aus. Erst kürzlich bestätigte Bayerns ehemaliger Sportdirektor Michael Reschke – gleichermaßen Initiator wie auch Teilnehmer – das faszinierende Spektakel in einem Podcast (Sport 1). Weingläser und Salzstreuer, zweckentfremdet vom Startrainer Pep Guardiola und dem sich damals noch im Talentstatus befindenden Thomas Tuchel, um Aufstellungen und Systematiken von vor Jahren gespielter Spiele nachzustellen. Zwei Hochbegabte bei der Arbeit.

Der Schüler Tuchel, mittlerweile selbst in der Liga der ganz Großen angekommen, der jahrelang die Spiele, die Arbeit des Meisters Guardiola studierte, fordert diesen nun heraus im größten Spiel, das der Vereinsfußball zu bieten hat. Chelsea gegen Manchester City, Tuchel gegen Guardiola.
 

Thomas Tuchel und Pep Gardiola
Begegnen sich auf Augenhöhe: Pep Guardiola und Thomas Tuchel. (Foto: imago images)

 

Der Wahrheit näher kommt man, wenn man das Pathos und die Sensation in der Betrachtung herauslässt. Zwei Fußballtrainer reden über Fußball. Über Spieler, über Räume, über Zeit, über Probleme und über Lösungen. Zugegebenermaßen zwei mit außergewöhnlichem Talent, denen man Leidenschaft bis hin zur Besessenheit nachsagt. Zwei, die Perfektion erreichen wollen, im vollen Bewusstsein, das Unmögliche zu jagen. Die immer besser werden, immer lernen wollen – und sich deshalb mit anderen (talentierten) Fußballtrainern treffen, um über Fußball zu reden. Soweit unspektakulär, sollte man also meinen.

Die Berichterstattung wird sich vor, während und mit großer Sicherheit auch nach dem Spiel auf diese beiden Größen ihrer Zunft fokussieren. Nach dem Schlusspfiff wird die breite öffentliche Meinung lauten, dass sich einer der beiden „vercoached“ hat. Ein Begriff, den ich noch nie im Zusammenhang mit der Arbeit von, sagen wir mal, gewöhnlicheren Trainern gelesen habe. Speziell in Deutschland kann es sich ein Trainer in Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung leicht machen: „Never change a winning team“ ist in vielen Teilen noch ein ungeschriebenes Gesetz. Das macht es einfach, denn wenn es schiefgeht, können es ja eigentlich nur die Spieler verbockt haben. Letzte Woche hatte man ja noch gewonnen – mit denselben Spielern und im gleichen System.

Weder Guardiola noch Tuchel denken in diesen Kategorien. Für sie hat jedes Spiel, jeder Gegner seine eigenen Anforderungen und bedarf dementsprechender Anpassungen. Es geht nicht um Systeme. Wer Manchester City im Speziellen spielen sieht, wird sich ohnehin schwertun, vom Anpfiff bis zum Abpfiff dieselbe Zahlenformation zu erkennen. Es geht vielmehr um Raum und Zeit, um Spielkontrolle als Ziel und Prinzip – und die erreicht man gegen jeden Gegner auf eine andere Art, abhängig von unterschiedlichen Einflussfaktoren. Läuft uns der Gegner hoch an oder igelt er sich in der eigenen Spielfeldhälfte ein? Schließt er das Zentrum, spielt er Mann gegen Mann über den ganzen Platz? Wie viele Spieler bietet er in welchen Räumen auf? Die Analogie zum Schach ist oft bedient und kaum von der Hand zu weisen. Kein Spiel ist gleich, jedes Spiel bietet neue, andere Herausforderungen. Es geht um Lösungen und darum, sie unter der Prämisse definierter Prinzipien zu finden. Da kommt der rote Faden ins Spiel.

Ein Beispiel: Pep Guardiola wurde lange nachgesagt, er hasse lange Bälle. Tiki Taka als Selbstzweck. Dass sich Guardiola permanent davon distanzierte („Ich hasse Tiki Taka“), interessierte nicht. Dabei sollte man mittlerweile wissen: Nicht alles was Guardiola plant funktioniert – aber nichts passiert ohne Sinn. Champions-League-Halbfinale. Manchester City gegen Paris SG. Nach einem langen Ball von Torwart Ederson erzielt Mahrez auf Vorarbeit von Zinchenko und De Bruyne das 1:0. Der vermeintlich stumpfe lange Ball war schlichtweg das Nutzen einer Stärke eines seiner Spieler. Denn Ederson, bekannt für die außergewöhnliche Länge seiner Flugbälle, hatte hier mitnichten aus Ideenlosigkeit den Ball lang geschlagen. Mit kurzen Pässen hatte City den mannorientiert und hoch pressenden Gegner in der Vorwärtsbewegung gebunden und so viel Raum im Rücken der Abwehrreihe der Pariser freigezogen. Schon kurz bevor der entscheidende Ball tatsächlich gespielt wird, sieht man wie Zinchenko als Außenverteidiger hochstehend in Erwartungshaltung des langen Balles auf dem Sprung nach vorne ist, während im Zentrum alle Spieler Ederson entgegenkommen und somit ihre Gegenspieler in Richtung City-Tor ziehen. Ein durch die Positionswechsel der Engländer provozierter Übergabefehler bei den Parisern, der Ball von Ederson kommt perfekt, Zinchenko nutzt den Gedanken und Bewegungsvorsprung, der Rest ist dann die individuelle Klasse der Spieler.

Langer Ball ist nicht gleich langer Ball. Es geht um Kontrolle. In einen Pulk von Spielern reinspielen, in der Hoffnung einer 50/50-Chance, dass der Ball beim eigenen Team landet, ist nicht erwünscht. Ein langer Ball, auf einen durch gegnerbindende und desorganisierende Pässe freigezogenen Spieler, bitte gerne! Und wenn man den Torwart mit dem vermutlich weitesten Schlag der Welt in seinen Reihen hat, dann soll das auch genutzt und entsprechend vorbereitet werden. Keine Mannschaft fühlt sich im hohen Pressing wohl, wenn sie weiß, dass ein einziger langer Ball sie entblößen und letztendlich killen kann.

Tuchel sprach in seinem so bekannten Rulebreaker-Vortrag mal vom „Playersgame“. Philipp Lahm beschrieb Pep Guardiola zuletzt als Diener der Spieler. Und vielleicht ist das bei vielen großen Gemeinsamkeiten und einigen kleineren Unterschieden der größte gemeinsame Nenner der beiden. Es geht ihnen nicht um 4-3-3 oder 5-3-2, sondern darum, die Spieler in Situationen zu bringen, in denen sie ihre Stärken ausspielen können. Thomas Tuchel sprach in Bezug auf Timo Werner zuletzt davon, dass dieser seine Stärken aus dem Halbraum heraus am ehesten entfalten könne und es darum gehe, einen mannschaftlichen Kontext zu entwickeln, in dem er das tun könne. Guardiola zog damals Lahm ins Zentrum, um seinem bekannten Prinzip der Überzahl im Zentrum zu folgen, ohne dabei Arjen Robben seiner Stärken in seiner bevorzugten Rolle als von außen nach innen agierender Außenstürmer zu berauben. Während große Teile der Fußballwelt mit eingerückten Außenstürmern und breiten Außenverteidigern oder gar doppelt besetzter Breite spielten, durfte Robben an der Linie bleiben, weil Lahm ins Zentrum rückte. Ein einfacher Gedanke, wenn man sich vom System löst und sich stattdessen von den Stärken der Spieler leiten lässt. Was kann mein Spieler gut? Wie bringen wir ihn in die entsprechende Situation?

Insofern kann man das Reagieren auf die sich ständig verändernden Umstände auch als Verzicht auf Eitelkeit ansehen. Die Trainer gehen den schweren Weg, übernehmen Verantwortung und riskieren das zu erwartende negative Feedback der Öffentlichkeit – in der Überzeugung, das Richtige zu tun, für den Erfolg. Als Trainer, die ihre Arbeit als einen fortlaufenden Prozess ständiger Detailarbeit am Spieler (seien sie auf noch so hohem Niveau) und am Spiel definieren, sind sie offenbar deutlich angreifbarer, als der „Never change a winning team“-Trainer. Wer sich im Detail damit beschäftigt, kann sich auf das Spiel nur freuen. Nicht allein auf die zu erwartende Spannung, sondern auf die Ideen und Pläne, welche die Trainer ins Spiel bringen und im Laufe des Spiels weiterentwickeln und verändern werden.

Beide hatten in dieser Saison eine jeweils sehr unterschiedliche Aufgabe zu bewältigen, gemeistert haben sie sie jeweils mit Bravour. Guardiola ist in seiner fünften Saison bei Manchester City, hat ein Team aufgebaut, das seine Prinzipien verinnerlicht hat, großartigen Fußball spielt und die stärkste Liga der Welt mit einer erdrückenden Konstanz gewonnen hat. Thomas Tuchel hat eine individuell gut besetzte, aber junge und verunsicherte Mannschaft mitten in der Saison übernommen und zu beeindruckender Stabilität geführt. Es gibt Aspekte in der Art und Weise, in der beide Fußball spielen lassen, die sich auch bei diesen Stationen sehr ähneln, obwohl sie auf unterschiedliche Art umgesetzt werden. Beide greifen mit vielen Spielern an, positionieren viele Spieler in und um den Strafraum des Gegners, was auch wichtig ist, denn einen klassischen Mittelstürmer haben sie jeweils nur selten auf dem Platz – ein interessanter Nebenaspekt. Beide verteidigen mit enormer Intensität in unterschiedlichen Höhen. Auch Manchester City zieht sich in Phasen des Spiels mal zurück, was auch durch die körperlich sehr starken und in der Verteidigung von Flanken souveränen Innenverteidiger zu erklären ist. Man kann es sich jetzt erlauben, denn im Sommer 2020 verstärkte Guardiola seinen Kader mit dem Portugiesen Rùben Dias. Die Verpflichtung hatte einen ähnlichen Effekt wie Virgil van Dijks Ankunft in Liverpool im Januar 2018.

Systematisch kann man Chelsea gegen den Ball vermutlich im 3-4-2-1 und Manchester City wohl im 4-2-3-1 erwarten (Guardiolas 3-5-2 im Ligaduell vor drei Wochen würde ich als eine Nebelkerze einschätzen). Bedeuten muss das alles ohnehin nichts. Beide werden alles daran setzen, ihre Spieler in die Räume und Situationen zu bringen, in denen sie ihre Qualität ausspielen können. Tuchel wird versuchen, Werner in Laufduelle zu bringen und nicht so viel mit dem Rücken zum Tor agieren lassen zu müssen. Außerdem ist es für ihn wichtig, zwischen den Abwehrlinien von Manchester City Räume für den offensiven Mittelfeldmann Mason Mount zu öffnen, damit der seine Stärken im Aufdrehen und seine Kreativität beim letzten Pass ausspielen kann. Guardiola wird De Bruynes Dynamik aus der und in die Tiefe nutzen wollen. Vielleicht zieht er ihn dafür zurück auf die 8 oder sogar 6, vielleicht lässt er ihn von außen agieren, damit er sich nicht mit Chelseas massivem Zentrum um den so umtriebigen Kanté rumschlagen muss.

Die „Never change a winning team“-Frage wird sich beiden eher nicht stellen. Chelsea verlor das letzte Ligaspiel und Guardiola gab, ob des bereits gewonnen Titels, den scheidenden Spielern um Vereinsikone Sergio Agüero die Bühne. Für Experten werden also schon die ersten fünf Minuten des Finales von großer Spannung sein. Warum läuft Manchester City so hoch an? Warum positioniert sich Chelsea so im Spiel mit Ball? Bei diesen beiden Trainern muss man immer eine Idee hinter jeder Aktion ihrer Mannschaft vermuten. Das nachzuverfolgen – oder es zumindest zu versuchen – kann großen Spaß machen und die Gefahr des oberflächlichen und vorschnellen Urteilens klein halten. Für alle anderen wird ein Champions-League-Finale sicher auch so genug zu bieten haben.

Die beiden Trainer werden sich im Anschluss eventuell erneut zum Essen treffen und das Spiel besprechen, die Züge des jeweils anderen analysieren und nachvollziehen. Die Salzstreuer und Gläser könnten wieder als Unterstützung dienen. Oder einer von beiden nimmt einfach eine Taktiktafel mit. Die Berichterstattung werden sich beide eher sparen.

 

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