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Fußball

 

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Der deutsche Fußball reformiert seine Nachwuchspolitik. Gut so. Manches von dem, was nun diskutiert wird, habe ich bereits in „Ausgespielt?“ erörtert.
Hier noch einmal einige Gedanken:

U23-Mannschaften: Als Bayer Leverkusen und Eintracht Frankfurt ihre U23-Teams abschafften, um Geld zu sparen, sowie in der Annahme, wer mit 17, 18 nicht schon große Klasse ist, aus dem wird nichts mehr, ging Jürgen Klopp auf die Barrikaden: „Das ist eine Katastrophe. Das ist eine ganz schlimme Entscheidung.“ Spielern würde damit Raum und Zeit für Entwicklung genommen. „Spätentwickler“, d.h. Spieler, die mit 18, 19 Jahren noch körperliche (und andere) Defizite haben, fielen durchs Netz und würden nicht weiter gefördert. Nur wenige Spieler sind mit 18 oder 19 schon in der Lage, auf höchstem Niveau zu kicken. Der Sprung in die Senioren, wo sie nun gegen Spieler antreten, die zehn Jahre älter sind, kommt für viele zu früh und ist zu groß (sofern ich von den oberen Ligen spreche). Wer seine U23 abschafft, verschenkt diese Spieler. Und hat keine Möglichkeiten, den jungen Spielern, die noch nicht ins Zentrum des Kaders der 1. Mannschaft vorgerückt sind, Einsatzzeiten zu geben. Laut DFL betrug in der Bundesliga der Anteil eingesetzter U21-Spieler in der Saison 2017/18 7,8 Prozent. 2018/19 sank er auf 4,8 Prozent. Und in der Hinrunde der aktuellen Spielzeit 2019/20 waren es nur noch drei Prozent.

Hier nur einige prominente Beispiele für „Spätentwickler“, nicht zufällig samt und sonders Niederländer (unsere Nachbarn haben uns in einigen Dingen schon wieder überholt – wir können ein weiteres Mal von ihnen lernen): Virgil van Dijk, wohl derzeit der weltbeste Abwehrspieler, war nach eigener Aussage mit 17 „ein langsamer Außenverteidiger und nicht gut genug, um Innenverteidiger zu sein“. Er wurde im zweiten Halbjahr geboren und war noch relativ klein. Van Dijk wurde zum Opfer des Relative Age Effects (RAE). In den Niederlanden hatte keiner der größeren Klubs Interesse an seiner Verpflichtung. Ajax zog einen anderen Spieler vor, der später in der zweiten englischen Liga spielte. Von 2011 bis 2013 kickte van Dijk für den FC Groningen, „aber auch nach zwei Spielzeiten in der Eredivisie sah niemand in den Niederlanden sein Potential“ (Christian Eichler in der „FAS“). Mit 22 ging er dann zu Celtic Glasgow in die international nur zweitklassige schottische Liga. Zwei Jahre später holte ihn Ronald Koeman zum FC Southampton. Frenkie de Jong (Andrea Pirlo: „Es gibt keinen besseren Mittelfeldspieler“) verbrachte seine ersten beiden Seniorenjahre bei Tilburg (wo er aber kaum zum Einsatz kam) und Jong Ajax. Auch Matthijs de Ligt spielte als Senior zunächst für Jong Ajax. Van Dijk, de Jong und de Ligt gehörten zu den zehn Spielern, die für den Ballon d’Or 2019 nominiert wurden … (Unter den zunächst 30 nominierten Spielern befanden sich mit Georginio Wijnaldum und Donny van de Beek zwei weitere Niederländer.)

Vernünftig wäre es, dem englischen Modell zu folgen: Etablierung eines eigenen Wettbewerbs für die U23-Teams der Profiklubs. Zwei Ligen, Nord und Süd. Ohne Abstieg. Auch das niederländische Modell ist interessant. Jong Ajax, Jong PSV, Jong Utrecht und Jong Alkmaar spielen in der 2. Liga, können aber nicht aufsteigen. Der Rest der U23-Teams der Profiklubs spielt in einem eigenen Wettbewerb.

Der DFB ist leider (noch) nicht dazu bereit, den englischen Weg zu gehen. Timur Tinç schreibt in der „Frankfurter Rundschau“: „Eine solche Spielklasse hätte jedoch einige Vorteile. Sie würde den Ergebnisdruck nehmen, weil es keinen Auf- und Abstieg gäbe. Wenn ein junger Spieler nicht sofort einschlüge, könnte man seine Entwicklung über einen längeren Zeitraum beobachten, anstatt ihn auszusortieren.“

In unserer 3. Liga beschränkt sich das Lernen auf die Förderung des physischen Durchsetzungsvermögens. Fußballerisch geht es hier eher schlicht zu. Für die Klubs geht es ums pure Überleben. In keiner anderen Liga sind die Existenzängste so groß. Die einen wollen mit allen Mitteln raus aus dieser unterfinanzierten Liga, die anderen fürchten den Abstieg in die Regionalliga und die damit verbundenen finanziellen Konsequenzen. Bei zwei bis drei Aufsteigern und vier Absteigern wird in jedem Sommer bis zu einem guten Drittel der Liga ausgetauscht. Wer in dieser Liga versucht, guten Fußball zu spielen, wird bestraft. Für die Entwicklung von Spielern ist die 3. Liga nur beschränkt geeignet.

U19-Bundesliga: Abschaffung der U19-Bundesliga in ihrer aktuellen Form. Diese Liga fördert nur den „Titeltrainer“ und puren Ergebnisfußball, bei dem viele Talente zum bloßen Zuschauen verdammt sind. (Einem niederländischen Beobachter und Experten fällt auf, dass das U19-Team eines Erstligisten in dieser Liga einen äußerst bescheidenen Fußball spielt – können die Spieler etwa nicht anders? Doch, sie können. Bestreitet das Team Freundschaftsspiele, sieht sein Fußball ganz anders aus.) Wichtig ist nicht, ob Borussia Dortmund die U19-Meisterschaft gewinnt. Wichtig ist, wie viele Spieler aus dem Kader den Sprung in die Profis schaffen. Das Gieren nach Titeln und die Angst vor dem Abstieg haben auch zur Folge, „dass junge Spieler mehr auf der Autobahn unterwegs sind als auf dem Platz“ (DFL-Nachwuchskoordinator Andreas Nagel).

C-Junioren: Hier plädiere ich für eine Reduzierung der Ligen. Die C-Jugend ist eine sensible Altersklasse. Die körperlichen Unterschiede sind hier enorm. Der „Titeltrainer“ setzt vornehmlich auf physisch starke Spieler – unabhängig von deren tatsächlichem Entwicklungspotenzial. Fußballerisch begabtere, aber körperlich schwächere Spieler bleiben auf der Strecke. Das viel zu differenzierte Ligensystem wirkt hier negativ. In der Saison 2003/04 gab es in der C-Jugend in Westfalen die Bezirksliga, Leistungsliga und die Kreisliga. Heute lautet das Ligenangebot für westfälische C-Junioren: Regionalliga, Westfalenliga, Landesliga, Bezirksliga, Leistungsliga, Kreisliga. Die Folge: noch mehr Vereinswechsel, noch mehr pure Titeltrainer, die Spieler holen, anstatt Spieler auszubilden und besser zu machen, die mehr Manager als Ausbilder sind. Da es permanent um Meisterschaft, Aufstieg, Abstieg geht. Vor der Saison 2019/20 schrieb im Raum Münster ein C-Jugendtrainer rund 80 Spieler anderer Vereine an, in einem Radius von über 60 Kilometern. Er wollte mit seiner Truppe in der Landesliga eine gute Rolle spielen, im Sinne seines eigenen Fortkommens. Dieser Trainer arbeitet nicht in der Nachwuchsabteilung eines Profiklubs, sondern in einem stinknormalen Amateurverein, dessen 1. Mannschaft in der Bezirksliga spielt. Selbst auf Amateurebene gibt es heute schon ab der D-Jugend einen riesigen Spielermarkt, auf dem Eltern als Agenten (man könnte auch sagen: Zuhälter) ihrer Kinder agieren. Und Trainer sich als Halbgötter im Trainingsanzug gerieren.

Trainerausbildung: Sehr gut finde ich folgende Idee aus der DFL: „Künftig soll es eine eigene Ausbildungsschiene für Nachwuchstrainer geben. Man will weg davon, dass das Gros der ambitionierten Jugendtrainer sich an berühmten Karrieren wie die von Nagelsmann, Tuchel und Kohfeldt orientiert und die Nachwuchsschulung deshalb nur als Zwischenstationen sieht. Mit der Folge, dass diese Trainer sich mehr an Siegen als an individueller Förderung orientieren“ („Frankfurter Rundschau“).

Oliver Bierhoff bemängelt: „Die persönliche Entwicklung der Spieler steht nicht mehr im Fokus unseres Systems. Wir haben zu viele ähnliche Trainertypen ausgebildet. (Anmerkung: Böse Zungen behaupten, es würden Co-Trainer ausgebildet.) Unsere Spieler agieren zu wenig individuell und kreativ. Es fehlt uns perspektivisch an durchsetzungsstarken Spielertypen.“

Den deutschen Fußball plagten viele Jahre taktische Probleme. Taktik ist wichtig, nur wird hier manchmal etwas übertrieben. Und die taktische Ausbildung zu früh betrieben, auf Kosten der technischen Ausbildung und des Spaßes am Spiel. Die Fixierung auf die taktische Ausbildung hat auch zur Folge, dass der Nachwuchsfußball manchmal die falschen Trainertypen anzieht. Trainer, denen das Feeling für das Spiel und das Spielen fehlt, denen es an Empathie mangelt, die manchmal wie Autisten agieren. Als ganz furchtbar empfinde ich Trainingseinheiten, in denen das Abschlussspiel nicht mehr vorkommt, in das sich ja alles Mögliche einbauen lässt. Ich kann den Raum verändern, die Regeln etc. (Sehr schön auch, weil sehr intensiv: 4 gegen 4 oder 5 gegen 5 auf doppeltem Sechzehner.) Fußballer wollen nun mal am liebsten kicken. Und das Abschlussspiel ist noch immer der Teil des Trainings, der am meisten mit dem zu tut hat, was ich am Wochenende auf dem Platz erlebe.

Spieler- oder Team-Paradigma? Vor einigen Jahren kritisierte Johan Cruyff bei den niederländischen Klubs die Art des Nachwuchstraining: „Der Verein gibt eine bestimmte Vision vor und in diesem Geist werden die Mannschaften ausgebildet. Aber nicht der einzelne. Diesbezüglich wird viel zu viel im Hinblick auf die Gruppe gearbeitet und zu wenig über das persönliche Training gesprochen, während doch durch den Wegfall des Straßenfußballs so ein Junge etwa zehn Stunden pro Woche weniger mit den Grundregeln des Fußballs zu tun hat.“ Er habe „noch nie ein Team bei der Profimannschaft debütieren gesehen, lediglich einzelne Spieler“.

Hier geht es um die bereits oben angerissene Resultat-versus-Entwicklung-Debatte. Matthias Kohler, der bei Ajax Amsterdam dafür verantwortlich war, den sogenannten Plan Cruyff in die tägliche Praxis umzusetzen: „Das Team-Paradigma ist ein resultatorientiertes Mannschaftsdenken, dass durch unser System genährt wird und die Entwicklung der Jugendspieler limitiert. Trainer denken anstelle von einem jahrelangen Prozess des Spielers ausgehend meist nur von Wochenende zu Wochenende, der Gewinn von Spielen und Meisterschaften steht über der Spielerentwicklung. Zudem spiegelt es sich im Scouting wieder, in dem nachweislich signifikant mehr auf den Ist-Zustand als auf Potential geachtet wird und zeichnet sich auch in der Trainerausbildung ab, in der vor allem Taktik und Erwachsenenfußball im Fokus stehen, dass in den Wettbewerbsstrukturen bis hin zu den Trainingszielen sichtbar wird.“ Im Spieler-Paradigma steht also das Individuum zentral, es schließt das Mannschaftskonzept nicht aus, sondern ergänzt es und bietet Leitlinien für eine optimale Entwicklung von Talent. Kohler: „Die Paradigmen liegen oft vermeintlich nahe beieinander, unterscheiden sich in Entscheidungen und in der Arbeitsweise jedoch enorm. Es benötigt eine einheitliche Idee, eine klare Vision, die sich in der Praxis wiederspiegelt, etwas auf das man bei alltäglichen Entscheidungen zurückgreifen kann.“

Nachwuchsleistungszentren (NLZ): Mehr Freiräume für die einzelnen Zentren. Das NLZ von Unterhaching muss nicht dieselben Dinge machen wie das NLZ von Borussia Dortmund. Spieler können dann bei der Wahl des NLZs mehr nach Inhalt und weniger nach Klubnamen / Ligazugehörigkeit entscheiden. Welches NLZ fördert meine Vorstellungen von Fußball und meine Qualitäten am besten? Die DFL sieht dies mittlerweile ebenso. „Die DFL will mit einem Paradigmenwechsel ihren Teil dazu beitragen, hierzulande wieder für einen tieferen Talentepool zu sorgen. (...) ‚Es gab zu wenig Differenzierung‘, erläutert Andreas Nagel angesichts von dreiviertel der überprüften Klubs mit Drei-Sterne-Auszeichnung. (...) Anders als in der Vergangenheit, als alle drei Jahre Prüfer wie Hummeln in die NLZs einfielen und anhand von 700 starren Testergebnissen ein NLZ-TÜV vollführten, will die DFL die Vereine künftig dynamischer, individueller und mehr als Partner denn als Oberaufseher begleiten. ‚Es soll ein lernendes System werden‘, so Daniel Feld“ („Frankfurter Rundschau“).

 

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