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Vor einigen Tagen fragten sich die Ruhrbarone, warum die Unruhen in Nordirland einen relativ geringen Widerhall in den Medien fänden und was dort eigentlich los sei. Der Brexit, die neuen Zollschranken, der britische Erfolg im Kampf gegen Corona – was ist es?  Die Leser der Ruhrbarone kennen Dietrich Schulze-Marmeling als Fußballsachautor. Nicht bekannt sein dürfte, dass unserem Gastautor die Verhältnisse in Nordirland bestens vertraut sind:

Vorab: Nordirland hat schon wesentlich schwerere Unruhen erlebt. Aber die letzten Tage lieferten die Bilder, die wir aus der Provinz gewohnt sind und in den letzten Jahren etwas vermisst haben. Die hiesige Presse berichtet vom ersten Einsatz von Wasserwerfern in Nordirland. Nun, während der „Troubles“, wie die Nordiren ihren Krieg nannten, feuerte die Polizei mit Plastikgeschossen auf „rioters“.

Die SPD-Politikerin Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europaparlaments, sieht die Gefahr eines neuerlichen Bürgerkrieges. Bevor ich mich dem  Eskalationspotenzial der gegenwärtigen Unruhen widme, einige Erläuterungen zu deren Ursachen. Was nicht ohne einen tieferen Blick in ein politisches Gebildes geht, das in diesem Jahr seinen 100sten Geburtstag feiert.
 

Eine Beerdigung und eine Seagrenze

Die in den protestantischen/loyalistischen Unterschichtsvierteln von Belfast und einigen anderen nordirischen Städten (Derry, Carrickfergus, Newtonabbey) grassierende Wut speist sich vordergründig aus zwei Vorgängen.

Am 30. Juni 2020 wurde im republikanischen Westen Belfast der prominente ehemalige IRA-Mann Bobby Storey beigesetzt. Die Pandemie-Regeln gestatteten bei Beerdigungen lediglich 30 Teilnehmer. Zu Storeys kamen aber gut 1.500 und von social distance war wenig zu sehen.

Der Trainerzug wurde von drei Sinn Féin-Politikern angeführt: Mary Lou McDonald, Präsidenten der Partei, ihrem Vorgänger Gerry Adams und Nordirlands stellvertretender Ministerpräsidentin Michelle O’Neill. Die Staatsanwaltschaft ermittelte und entschied, die Sinn Féin-Größen nicht wegen Verstößen gegen die Corona-Regeln zu belangen.

Noch mehr Emotionen schürte aber das Protokoll zu Irland und Nordirland, eine Vertragsklausel des Brexit-Austrittsabkommens zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union. Um eine „hard border“ (harte Grenze) zwischen Nordirland und der Republik Irland zu verhindern, die mit dem Good Friday Agreement (GFA) von 1998 (s.u.) kollidieren würde, bleibt Nordirland faktisch Mitglied der Zollunion.

Dies bedeutet eine Seegrenze und Zollkontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien, also innerhalb des Vereinigten Königreichs. Premierminister Boris Johnson hatte dies stets ausgeschlossen. Eine Seegrenze würde die Integrität des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland verletzen.

So ist es, aber schließlich hat er ihr doch zugestimmt, weshalb sich die Loyalisten von London verraten sehen. Und der Auffassung sind, dass sie eine weitere Schlacht gegen die Republikaner und Nationalisten verloren haben.

Mensch muss an dieser Stelle den Begriff „hard border“ relativieren. Die „hard border“ zwischen Nordirland und der Republik Irland war eine militärisch gesicherte. „Grenzposten“ waren bis an die Zähne bewaffnete britische Soldaten, die sich nicht für Alkohol, Zigaretten oder Schokolade interessierten, sondern für Waffen und Sprengstoff.

Die „hard border“ sollte den Nachschub für die IRA aus dem Süden und grenzüberschreitende Operationen der republikanischen Guerilla unterbinden. Hierfür wurde auf den Hügeln von South Armagh eine Kette von Beobachtungstürmen installiert. Eine derartige „hard border“ wird es nicht mehr geben – es sei denn, es kommt erneut zu einer groß angelegten militärischen Kampagne von Republikanern, von der aber kaum auszugehen ist.

Beide Ereignisse, die Straffreiheit für die Sinn Féin-Politiker und die Einrichtung einer Seegrenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs, nährten bei den Loyalisten also die Angst vor einem weiteren Verlust an Macht und Einfluss – und dies in einem politischen Gebilde, das jahrzehntelang seine Legitimation daraus bezog, ein „protestant state for protestant people“ zu sein.

Die rechtskonservative Democratic Unionist Party (DUP), die mit Arlene Forster die Ministerpräsidentin stellt und die größte Partei der Unionisten/Loyalisten ist, goss Öl ins Feuer, in dem sie die Behauptung der loyalistischen Radikalen übernahm, die „britische Identität“ der nordirischen Protestanten sei in Gefahr. Bis dahin hatte die DUP einen eher pragmatischen Umgang mit dem Protokoll gepflegt. Ihr Kurswechsel ist auch eine Reaktion auf die wachsende Zustimmung für die Partei Traditional Unionist Voice (TUV).

Die TUV hatte sich von der DUP abgespalten, als diese mit Sinn Féin eine Regierung bildete. Bislang ist die TUV im nordirischen Parlament mit nur einem Abgeordneten vertreten (DUP: 28, Sinn Féin 27). 2022 wird neu gewählt, und die DUP befürchtet, dass sie an die TUV Stimmen verliert und damit ihren Status als stärkste Partei einbüßt. Zu Gunsten von Sinn Féin. Die Republikaner würden dann den Ministerpräsidenten stellen – ein Alptraum für die Unionisten.
 

Der schrittweise Abschied vom “protestant state“

Ein Blick zurück in die Geschichte. Bei der Teilung der irischen Insel wurde die Grenze so gezogen, dass im Norden eine deutlich protestantischer/unionistische Mehrheit garantiert war. Mit 65,1% zu 39,9% erschiene diese als unveränderbar. Die Konstituierung des Staates wurde von anti-katholischen Pogromen begleitet. In den folgenden 50 Jahren herrschte in Nordirland mit der protestantischen Unionist Party nur eine Partei. Eine schwer bewaffnete Polizeitruppe, die Royal Ulster Constabulary (RUC), wurde zu ihrem bewaffneten Arm.

Ende der 1960er betrat eine Bürgerrechtsbewegung die Bühne, die eine umfassende Reform des Staates forderte. Im Prinzip ging es ihr lediglich darum, die Verhältnisse in Nordirlands den im Rest des Vereinigten Königreichs herrschenden Demokratie- und Rechtsstaatsstandards anzupassen.

So forderte man eine Reform des Wahlrechts, das die katholische Bevölkerung klar benachteiligte, die Auflösung der berüchtigten und ausnahmslos protestantischen Hilfspolizei „B-Specials“, de facto eine loyalistische Paramiliz, ein Ende der Diskriminierung bei der Vergabe von öffentlichem Wohnraum und Arbeitsplätzen sowie die Abschaffung der Notstandsgesetze.

In den protestantischen Arbeitervierteln Belfasts betrachtete man die Forderung nach einer Gleichstellung aller Bürger als Bedrohung und reagierte mit anti-katholischen Pogromen. Die Schutzlosigkeit, die die katholische Bevölkerung während dieser erfuhr, erweckte die weitgehend eingeschlafene IRA zu einem neuen Leben. Die britische Regierung schickte die Armee nach Nordirland.

Vorausgegangen war ein Hilferuf der protestantischen/unionistischen Regionalregierung. Als deutlich wurde, dass es London primär um die Verteidigung des Status Quo und die einseitige Entwaffnung der Republikaner ging, schaltete die IRA von der Verteidigung katholischer Viertel zum Angriff auf Soldaten und Polizisten um.

1974 verhinderte ein Generalstreik der protestantischen Industriearbeiterschaft, der von den loyalistischen Paramilitärs unterstützt wurde, die Etablierung einer „power sharing“- Regierung aus Unionisten und der moderaten „katholischen“ Social Democratic and Labour Party (SDLP) sowie die Einrichtung eines gesamtirischen Rats.

Die britische Regierung weigerte sich, die Armee als Streikbrecher einzusetzen. Das Bündnis zwischen Unionisten/Loyalisten und den reaktionärsten Kräften des britischen Establishments funktionierte noch. In einer der größten und militantesten proletarischen Streikaktionen der westeuropäischen Nachkriegsgeschichte fand eine damals noch numerisch starke protestantische Industriearbeiterklasse nicht zu ihren „katholischen Klassenbrüdern“, sondern nur zu sich selbst.

1985 unterzeichneten London und Dublin das anglo-irische Abkommen, das eine Reform des nordirischen Staates versprach und der Republik ein Konsultationsrecht einräumte. Hintergrund war die anhaltende Kampagne der IRA und der Aufstieg Sinn Féins als Wahlpartei. Der politische Arm der republikanischen Bewegung hatte bis dahin nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Mit Sinn Féins Wahlerfolgen erhielt die IRA-Kampagne eine gewisse „demokratische Legitimation“. London und Dublin befürchteten, dass Sinn Féin die SDLP in der katholischen Wählerschaft überholen könnte.

Die britische Regierung hielt es nicht einmal für nötig, die protestantischen/unionistischen Politiker über ihr Vorhaben zu informieren – sie wurden mit vollendeten Tatsachen konfrontiert. Eingeweiht wurde nur die SDLP. Damit wurde das sogenannte „loyalistische Veto“ erstmals außer Kraft gesetzt.

Unionisten/Loyalisten versuchten eine Wiederholung von 1974, scheiterten aber mit ihren Massenprotesten an Maggie Thatcher, die hart blieb. Ein führender IRA-Stratege kommentierte dies damals gegenüber dem Autor mit den Worten: „Maggie Thatcher macht unseren Job…“
 

Das Good Friday Agreement

Anfang der 1990er wurde immer deutlicher, dass es militärisch bei einem Patt bleiben würde. Die britische Armee und die RUC konnten die IRA nicht bezwingen. Die IRA besaß die Kapazität, den Krieg endlos weiter zu führen. Aber die IRA würde nie dazu in der Lage sein, die Briten „ins Meer zu treiben“. Vor allem aber: Warum weiter Blut vergießen, wenn der Staat sich auch ohne Terror kontinuierlich verändert? Außerdem hatte die britische Regierung erklärt, dass sie in Nordirland nicht länger strategische Interessen verfolge.

1998 unterzeichneten die Regierungen des Vereinigten Königreichs und der Republik Irland sowie die nordirischen Konfliktparteien das GFA. Die britische Armee zog sich zurück in ihre Kasernen, die Truppenpräsenz in Nordirland wurde drastisch abgebaut und die IRA gab ihre Waffen ab. Der Abrüstungsprozess wurde von einer eigens hierfür eingerichteten Independent International Commission on Decommissioning kontrolliert, der der ehemalige kanadische NATO-General John de Chastelain vorsaß.

Ihr gehörten des Weiteren der ehemalige finnische Ministerpräsident Martti Ahtisaari und der ANC-Aktivist Cyril Ramaphosa an, heutig Präsident Südafrikas. Ramaphosa war für die Republikaner eine Vertrauensperson. Die IRA hatte dem ANC während dessen Kampagne gegen das Apartheidregime „technisch“ unter die Arme gegriffen, der ANC beriet die Republikaner im Friedensprozess.

Dass die britische Regierung den Abrüstungsprozess in internationale Hände gab, konnte man auch als partiellen Rückzug aus Nordirland interpretieren. Zumindest betrachtete London Nordirland nicht in gleicher Weise als „britisch“ wie Liverpool oder Newcastle, ja nicht einmal Edinburgh. US-Präsident Bill Clinton spielte im Friedensprozess keine geringere Rolle als der britische Premier Tony Blair. Der Konflikt wurde nicht in einem britischen Rahmen gelöst, sondern mit internationaler Hilfe.

Die republikanischen und loyalistischen Gefangenen wurden vorzeitig aus der Haft entlassen und den ins Ausland geflüchteten IRA-Aktivisten wurde die Rückkehr in ihre Heimat ermöglicht. Aus der RUC, die zu über 90 Prozent protestantisch und eine paramilitärische Truppe war, wurde der Police Service of Northern Ireland (PSNI).

Die Namensänderung stand für eine Entpolitisierung der Truppe. Wie auch die Veränderung ihres Emblems, aus dem u.a. die Krone entfernt wurde. Die Personalstärke wurde stark verringert. Neubewerber mussten zu gleichen Teilen beiden Bevölkerungsgruppen entstammen.

Die neue Polizeibehörde wird von einem überparteilichen Gremium überwacht, dem Policing Board. Diesem gehören auch drei Sinn Féiner an. Zwei von ihnen, Gerry Kelly und Lynch, sind prominente ehemalige IRA-Aktivisten. Die Polizei wird also heute von Leuten kontrolliert, die sich früher einen blutigen Krieg mit ihr lieferten. Während der „Troubles“ wurden 277 RUC-Beamte von der IRA erschossen oder zu Tode gebombt.

Nordirland bekam wieder eine Regionalregierung. Diese hat nach dem „power sharing“- Prinzip zu funktionieren, was 1974 gescheitert war. Und dieses Mal war nicht nur die SDLP dabei, sondern auch Sinn Féin. Des Weiteren institutionalisierte das Abkommen die Kooperation mit der Republik.

Das GFA garantiert zwar den weiteren Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich – solange wie eine Mehrheit der Bevölkerung sich nicht anders entscheidet. Zum Zeitpunkt der Gründung des nordirischen Staates konnte man das als Unionist noch locker unterschreiben, aber seither hat sich die demographische Kluft zwischen Protestanten und Katholiken deutlich verringert.

Auf Grund der höheren katholischen Geburtenrate waren demographische Veränderungen stets ein Thema, das Unionisten/Loyalisten den Schweiß auf die Stirn trieb. Kompensiert wurde diese dadurch, dass man mit Hilfe von Diskriminierung die katholische Emigration hoch hielt. Aber die Zeiten, in denen dies möglich war, sind längst vorbei. Die protestantische Community leidet seit Jahren unter einem „brain drain“, während die Zahl der katholischen Akademiker und Mittelklässler steigt.

Eine weit verbreitete Sicht auf das Abkommen lautet: Keine der beiden nordirischen Fraktionen habe gewonnen und keine verloren. Gemessen an dem, was der nordirische Staat einmal war, wofür er gegründet wurde, ist dies Unsinn. Dass über 90 % der nordirischen Katholiken dem GFA zustimmten, aber nur 57 der Protestanten, hatte Gründe. Ende März 2021 kündigten die loyalistischen Paramilitärs ihre Unterstützung des GFA.
 

„Power sharing“ wider Willen

Das heutige Nordirland ist ein „bi-nationales“ Gebilde, in den Unionisten/Loyalisten die Macht mit ihren ärgsten Feinden teilen müssen.

Von 1892 bis 1997 war der Oberbürgermeister Belfasts stets ein Unionist. Dann wurde mit Alban Maginnes von der SDLP erstmals ein Katholik und „Nationalist“ gewählt. 1983 zog mit dem ehemaligen IRA-Aktivisten Alex Maskey erstmals ein Sinn Féiner in die ehrwürdige City Hall ein. Die Unionisten gingen auf die Barrikaden. Maskey avancierte zum Hassobjekt der unionistischen Mehrheit im Stadtparlament, zu dessen Sitzungen er mit einer Panzerweste fuhr. 1987 überlebte Maskey nur knapp ein Attentat der loyalistischen Terrororganisation Ulster Defence Association (UDA).

2002 hatte Belfast mit Maskey erstmals einen Sinn Fein-Oberbürgermeister. Der Oberbürgermeister wechselt jährlich. Von den seither 19 Oberbürgermeistern stellte Sinn Féin sieben. Aktuell sind 18 der 60 Abgeordneten des Stadtparlaments Republikaner. Sinn Féin ist damit die stärkste Partei in Belfast. Platz zwei belegt die DUP (15) vor der Alliance Party (10) und der SDLP (6). Die linksozialistischen People before Profit, wie Sinn Féin gesamtirisch organisiert, gewann drei Sitze. Die Wähler von People before Profit sind vorwiegend Katholiken.

Die Alliance Party (AP) ist nicht konfessionsgebunden und fischt als liberal-unionistische Formation auch in der katholischen Wählerschaft. Genauer: in deren sozial besser gestelltem Milieu. Ihr Verhältnis zur Union ist pragmatisch. Die AP folgt hier dem Willen der nordirischen Bevölkerung. D.h.: Sie ist so lange für einen Verbleib im Vereinigten Königreich, wie eine Mehrheit dies will.

Als der Belfaster Stadtrat über die Zukunft der britischen Fahne auf dem Dach der City Hall befand, votierte eine Mehrheit dafür, die permanente Präsenz des Union Jacks zu beenden. Gegen die Stimmen der DUP, aber mit den Stimmen der AP. Dies führte zu monatelangen Protesten und Ausschreitungen, letztere initiiert von den loyalistischen Paramilitärs. Insbesondere Politiker der AP wurden zu Zielscheiben.

In der protestantischen Hochburg East Belfast musste eine AP-Stadtratsabgeordneten nach wiederholten Drohungen ihr Haus verlassen. Ebenfalls in East Belfast wurde das Büro der AP-Unterhausabgeordneten Naomi Long in Brand gesteckt.
 

Nordirland und der Brexit

Beim Brexit-Referendum von 2016 hatten 55,8 % der Nordiren für „Remain“ gestimmt. Dass die überwältigende Mehrheit der Katholiken/Nationalisten für einen Verbleib in der EU votieren würde, war keine Überraschung. In der Sinn Féin-Hochburg West Belfast waren es 74,1 %, im Wahlkreis Foyle, wozu auch die nach Belfast zweitgrößte und mehrheitlich katholische Stadt Derry gehört, sogar 78,26.

Das Gesamtergebnis konnte aber nur zustande kommen, weil sich auch ein Teil der Protestanten / Unionisten nicht mit dem „Brexit“ anfreunden konnte. Obwohl mit der DUP ihre größte Partei für „Leave“ mobilisierte.

Was die DUP anbetrifft, so ist eine Geschichte aufschlussreich, die dem Autor von einem guten Bekannten eines führende Politikers dieser Partei erzählt wurde. Der Politiker war damals Minister in der nordirischen Regierung aus DUP und Sinn Féin. Er habe sich mit seiner Partei zwar für den „Brexit“ ausgesprochen, aber beim Referendum für „Remain“ gestimmt. Wie im Übrigen auch andere DUP-Politiker.

Die DUP steckt beim „Brexit“ in einem Dilemma. Auch DUP-Politiker wissen, dass der Austritt aus der EU schlecht für die nordirische Ökonomie ist und möchten keine Rückkehr zu einer harten Grenze zwischen dem Norden und der Republik. Aber erstens sind die britischen Tories – genauer: ihr rechter Flügel – ein traditioneller Verbündeter.

Und zweitens begrüßt man aus Prinzip alles, was einem Abrutschen in ein vereinigtes Irland entgegensteht, was den Norden vom Süden separiert.

Bei den britischen Unterhauswahlen vom Dezember 2019 verloren die Unionisten dann erstmals die Mehrheit der nordirischen Sitze. Die DUP gewann acht Sitze, Sinn Féin sieben, die SDLP kam auf zwei und die AP einen. Unterm Strich waren dies zehn Sitze und damit die Mehrheit für das Anti-„Brexit“-Lager.

66,2 % der Wahlberechtigten gaben Parteien ihre Stimme, die sich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen hatten.

Im alten Unterhaus konnte die DUP noch das Zünglein an der Waage spielen und damit die „Brexit“-Politik der Tories beeinflussen konnte. Dank seiner satten Mehrheit musste Boris Johnson im neuen Westminster keine Rücksicht auf die nordirischen „Brexiteers“ nehmen.
 

Britischer Nationalismus und englischer Nationalismus

Die DUP musste nun registrieren, dass der „Brexit“ ein englisches Projekt ist. Der „Brexit“ ist ohne den Aufstieg eines englischen Nationalismus nicht zu verstehen. Seit Ende der 1990er lässt sich in England verstärkt beobachten, dass der britische Nationalismus einem englischen weicht.

Mit der Frage konfrontiert, ob sie sich eher als Engländer oder als Briten sehen würden, präferierte 1996 nur ein knappes Drittel der Engländer eine englische Identität. 2011, 15 Jahre später, sahen sich nur noch 16% in erster Linie als Briten.

Hierzu passte der Umgang von Johnsons Vorgängerin Theresa May mit dem Ergebnis des „Brexit“-Referendums. May agierte, als sei sie nur die Premierministerin von England – das Mehrheitswahlrecht verleitet dazu.

Angesichts des Ergebnisses des Referendums: Nordirland und Schottland gegen den „Brexit“, London und die stark von irischen Einwanderern geprägten Städte Manchester und Liverpool votierten ebenfalls mit deutlicher Mehrheit für „Remain“, hätte die erste Post-Referendum-Amtshandlungen in Gesprächen in Nordirland, Schottland und mit der Opposition in England bestehen müssen.

Stattdessen gab sich May mit den Stimmen der DUP zufrieden – und ignorierte damit die Mehrheit der nordirischen Wähler. Mit der Folge, dass auch Teile der unionistischen / protestantischen Community realisierten, dass die Regierung in London eigentlich null Interesse an der Provinz hat und deren Probleme ignoriert.

Für die Mehrheit der englischen „Brexiteers“ war der Austritt aus der EU wichtiger als der Fortbestand des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland. Der englische Schriftsteller Anthony Barnett interpretierte den „Brexit“ so: Da England das Vereinigte Königreich nicht verlassen könne, hätten die Engländer für die zweitbeste Lösung gestimmt: „They told the EU to fuck off…”
 

Quo vadis?

Verglichen mit 1974 und 1985 wirkt der loyalistische Widerstand gegen die Seegrenze eher lahm. Von einem Massenprotest ist noch nichts zu sehen. Schauplatz der gegenwärtigen Ausschreitungen sind die loyalistischen Unterschichtsviertel, die sich von sozial und ökonomisch ähnlich gestrickten katholischen Vierteln dadurch unterscheiden, dass es ihnen an politischer Führung und Repräsentanz mangelt.

Den loyalistischen Paramilitärs ist es nie gelungen, eine mit Sinn Féin vergleichbare politische Formation aufzubauen. Intellektuell beschlagene Anführer hatten stets Seltenheitswert.

Die IRA hatte hier mehr zu bieten. Aus der IRA gingen Kohorten von Politikern hervor, die nach den „Troubles“ in die kommunalen Parlamente und das Regionalparlamente einzogen – – bei den loyalistischen Paramilitärs war dies nicht der Fall.

In den Problemvierteln fühlt man sich nicht nur von der britischen Regierung im Stich gelassen, sondern auch von der DUP. Die DUP instrumentalisiert die Loyalisten für ihre politischen Absichten und wirbt um ihre Stimmen, aber sie kümmert sich nicht wirklich um die ökonomisch deprivierten Viertel, sondern überlässt sie den Paramilitärs, die tief im Drogenhandel stecken.

Der South East Antrim Brigade der UDA wird nachgesagt, sie kontrolliere den Drogenmarkt in ihrer Region zu 100 Prozent. Und dass sie versuche, mit Hilfe katholischer Dealer die katholischen Viertel in Belfast mit Kokain zu fluten.

Zum „Geltungsbereich“ der Brigade gehören auch Carrickfergus und Newtownabbey – also zwei der Städte, in denen es zu Unruhen kam.

Bei den „rioters“ handelt es sich vornehmlich um Jugendliche und Kinder. Viele von ihnen kommen aus Familien, die nicht funktionieren – auf Grund von Drogen, Paramilitarismus, kultureller und sozialer Verelendung. Der Lockdown, der Kinder und Jugendliche besonders hart trifft, spielt für die Unruhen vielleicht eine größere Rolle als die Seegrenze.

Die loyalistischen Paramilitärs hielten sich bislang weitgehend zurück. Dies kann sich ändern. Es gibt erste Anzeichen dafür, dass sie auf die „Identitätskrise“ so reagieren, wie man es von ihnen gewohnt ist: mit Vertreibungen und sektiererischen Morden. Vor wenigen Tagen wurden in Carrickfergus katholische Familien von der Ulster Volunteer Force (UVF) aufgefordert, ein mehrheitlich protestantisches Wohnviertel zu verlassen.

Ein Problem, das hier nicht erörtert wurde, ist das der Polizei bzw. von policing in einer gespaltenen Gesellschaft. In den loyalistischen Vierteln trifft der PSNI nur auf geringe Akzeptanz, obwohl Protestanten noch immer die Mehrheit der Polizisten stellen. Und für viele Republikaner steckt in der PSNI noch zu viel RUC.

 

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