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Mehmet Scholl prognostiziert den Untergang des deutschen Fußballs. Schuld seien die „Studenten“, die die Nachwuchsleistungszentren der Profiklubs übernommen hätten. Mit „Laptop-Trainern“ wie Domenico Tedesco und Hannes Wolf würde der deutsche Fußball „sein blaues Wunder erleben“. Vor allem in der Nachwuchsarbeit hätten solche Fußballlehrer nichts zu suchen: „Wir verlieren die Basis. Die Kinder müssen abspielen, sie dürfen sich nicht mehr im Dribbeln ausprobieren. Sie bekommen auch nicht mehr die richtigen Hinweise, warum ein Pass oder ein Dribbling nicht gelingt. Stattdessen können sie 18 Systeme rückwärts laufen und furzen.“

Ja, es ist ein bisschen gemein. Aber bei Scholl kann ich mich nie des Eindrucks erwehren, dass hier ein Enttäuschter spricht. Jemand, der ein großer Spieler war und deshalb nicht verstehen kann, dass niemand auf die Idee kommt, ihm einen Job als Trainer- oder Ausbilder anzubieten. Scholl ist erst 47. Aber wenn er auf junge Trainer eindrischt, wirkt er häufig erstaunlich alt.

Trainer oder Spieler, das sind zwei ziemlich unterschiedliche Dinge. Eine erfolgreiche Spielerkarriere kann für den Trainerjob sehr hilfreich sein. Der Trainer sollte schon wissen, wie eine Fußballmannschaft funktioniert. Dafür muss er aber nicht auf höchstem Level gespielt haben. Viele große Ex-Spieler haben als Trainer wenig gerissen: Mario Basler und der von Scholl in höchsten Tönen gerühmte Stefan Effenberg sind nur zwei von vielen Beispielen. Der Trainer Lothar Matthäus war zwar etwas erfolgreicher als seine beiden ehemaligen Bayern-Kameraden, aber vom gleichnamigen Weltklassespieler trennt ihn trotzdem mehr als nur eine Liga. Umgekehrt waren auffallend viele erfolgreiche Trainer eher mittelmäßige Spieler: Volker Finke, Ralf Rangnick und Thomas Tuchel schafften es als Spieler nur in die dritte Liga, Jürgen Klopp kickte auch nur zweitklassig. Joachim Löw kam als Aktiver in der ersten Liga nie richtig an, wurde aber als Trainer immerhin Weltmeister. International kann man diese Liste noch u.a. durch José Mourinho und Alex Ferguson ergänzen.

Als Spieler eine Bereicherung

Mehmet Scholl hat als Spieler den deutschen Fußball bereichert. Als Trainer hinterließ er im Nachwuchsbereich des FC Bayern kaum Spuren. Finke, Rangnick, Tuchel, Klopp und Löw konnten Scholl auf dem Spielfeld nicht das Wasser reichen. Aber als Trainer haben sie dem deutschen Fußball wichtige Impulse gegeben.

Als Mehmet Scholl noch vor den Ball trat, wurde er als letzter deutscher Straßenfußballer gefeiert. Der Mangel an Straßenfußballern ist also keineswegs neu. Er begann nicht erst mit der Reform der Trainerausbildung, den NLZs, den Nagelsmännern, Tedescos und Wölfen. Man kann auch nicht behaupten, dass der deutsche Fußball seit Scholls Karriereende schlechter geworden ist. Dass Deutschland 2014 Weltmeister wurde, hat viel mit Trainern und Experten zu tun, die Scholl nicht mag: beispielsweise Pep Guardiola oder Löws Chefscout Urs Siegenthaler.

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Mehmet Scholl im Jahr 2016
Foto: Ralf Roletschek, Wikimedia Commons

Scholl, der ein mehr als ordentliches Abitur gebaut haben soll, strapaziert anti-intellektuelle Klischees, was im Milieu des Fußballs immer noch verfängt. Was versteht Scholl eigentlich unter einem „Laptop-Trainer“? Sind diese Trainer zwangsläufig empathielos? Ja, es gibt diese Nerds, die das Spiel perfekt auseinandernehmen. Die dabei aber den Faktor Mensch komplett vernachlässigen. Bei denen man sich nicht vorstellen kann, dass sie eine Mannschaft begeistern und führen können. Aber kann man so etwas über Tedesco und Wolf sagen? Was Tedesco anbelangt: spätestens seit dem Revierderby nicht. Ein empathieloser Trainer schafft es nicht, seine Mannschaft nach einem 0:4-Rückstand noch zu einem Remis zu treiben. Aber ein Trainer, der analytisch nichts drauf hat, vermutlich ebenfalls nicht.

Von Basics und Specials

Sicherlich muss man aufpassen, dass das Pendel nicht zu stark in die „wissenschaftliche Richtung“ ausschlägt. Peter Hyballa hat dies vor einigen Monaten in einem Gespräch mit dem Autor dieses Beitrags angesprochen: „Ich spreche öfters in Kolumnen oder bei Trainerausbildungen von Basics. Und davon, dass Dribbling heute kein Basic mehr, sondern ein Special geworden ist. Basic ist heute, in einer 4-4-2-Grundordnung aufzustellen. Dafür kannst du auch elf Leute von der Straße nehmen, die noch nie Fußball gespielt haben. Aber ein 4-4-2 mit Verschiebewegen und so, wo der Ball nicht dabei ist – das ist nicht so schwer. Doch es wird immer noch so getan, dass das taktische das Zaubermittel schlechthin ist. Und ich glaube, dass die große Zutat die Menschenführung und der Ball ist. Das muss wieder stärker in die Trainerausbildung rein. Denn jeder sagt jetzt: Wir brauchen Dribbler. Jetzt ist die Frage: Wie lange sagen wir das noch? Und wie sehen wir jetzt diese Dribbler? Vor zehn, 15 Jahren haben wir gesagt: Wir sind taktisch nicht gut genug. Guck mal nach Frankreich, guck mal nach Holland, guck mal in Spanien. Von diesen Ländern haben wir auch viele Übungsformen gestohlen. Ich war viel im Ausland. Was den Deutschen natürlich ausmacht: Wir wollen immer perfekt sein. Wir wollen immer die Besten sein. Wir wollen immer Ordnung haben. Wir wollen immer die Pünktlichsten sein. Wir wollen immer noch besser als die anderen sein. Darum fühle ich mich auch wohl in Deutschland. Auf der anderen Seite ist es manchmal übertrieben perfekt. Unsere Sprache ist konzeptionellste Joystick-Konzeptsprache geworden. Jetzt überholen wir uns bereits. Wir müssen auch mal wieder gucken, ob die Jungs Spaß beim Training haben, ob sie mal wieder Lachen. Oder wollen wir jetzt nur noch Joystick-Spieler?“

Ohne empathische Zuwendung bleibt ein wissenschaftlicher Ansatz erfolglos, weil Analysen und Lösungen nicht in die Köpfe der Spieler dringen. Immer nur die Taktik zu erklären, kommt irgendwann in den Köpfen nicht mehr an.

An Defiziten arbeiten

In der Fußball-Ausbildung haben wir es häufig mit Pendelbewegungen zu tun. Man erkennt Defizite im Passspiel, in der Taktik etc. Dass Deutschland besonders in taktischen Dingen anderen Ländern hinterherhinkte, wird kaum jemand bestreiten. Dies war mit ein Grund, warum die deutsche Nationalelf und deutsche Klubs in Europa viele Jahre schwächelten. An diesem Defizit (und weiteren) wurde gearbeitet. Mit dem bekannten Ergebnis: Deutschland wurde 2006, 2010 WM-Dritter und 2014 Weltmeister. Und der FC Bayern war von 2011/12 bis 2015/16 stets unter den besten vier Teams in Europa zu finden. Dann kam für Guardiola, der die Spieler angeblich überforderte, der empathische Carlo Ancelotti, ein „Freund der Spieler“. Unter Ancelotti verlernten die Spieler vieles von dem, was ihnen Guardiola beigebracht hatte. Und sie lernten auch nichts Neues. Und beim BVB wird man mittlerweile wohl erkennen, dass Thomas Tuchel, der den Klub zweimal zur Vizemeisterschaft und einmal zum DFB-Pokalsieg führte, so schlecht nicht war.

Arbeitet man intensiv an einem Defizit, geschieht dies häufig auf Kosten eines anderen Aspekts – wodurch ein neues Defizit entsteht. So verhält es sich mit Passspiel und Dribbling. Ein Trainer, der das Kurzpass- und one-touch-Spiel seiner Mannschaft verbessern will, wird seine Mannschaft im Training ein bisschen beim Dribbling bremsen. Er wird das „individuelle Spiel“ vernachlässigen. Wir lehren one touch, kurze Ballhaltezeiten, den Gegner durch kurze, schnelle, präzise Pässe und Positionswechsel aus seiner Position zu spielen. Und plötzlich stellen wir fest, dass es kaum noch Spieler gibt, die das „Eins-gegen-Eins“ suchen und sich hier auch durchsetzen – weil wir die ganze Zeit darauf bestanden haben, sich möglichst schnell vom Ball zu trennen, den Kampf „Mann-gegen-Mann“ zu vermeiden. Was nicht falsch war, zumal wir das vorher nicht konnten, aber dadurch wurde etwas anderes ungewollt diskreditiert. Etwas, das wir dringend benötigen, gerade die starken Teams, weil sich die Gegner hinten reinstellen. Und das kann so ziemlich jeder. Das kann man auch einer Mannschaft beibringen, der es an technischer und spielerischer Qualität mangelt.

Ein Problem, das aber längst erkannt wurde. Nach der WM 2014 schrieb der damalige DFB-Sportdirektor Hansi Flick: „Unser Eindruck war, dass viele Spieler das Gefühl hatten, dass das System ihre Fehler auffängt. Nach dem Motto: Wenn ich den Zweikampf verliere, kann ich mich auf den Mitspieler verlassen, der hinter mir steht und das Problem löst. Wir müssen wieder eine andere Einstellung fördern, nämlich: An mir kommst Du mit dem Ball nicht vorbei! Teil unserer Spielphilosophie muss sein, dass die Spieler Spaß daran haben, sich Mann gegen Mann zu messen. Genauso in der Offensive. Sie müssen das Selbstbewusstsein entwickeln, Eins-gegen-Eins-Situationen anzustreben. Weil sie alle Möglichkeiten haben, vorbei zu gehen, weil sie ein großes Repertoire an Finten haben, weil sie über Geschwindigkeit und technische Qualitäten verfügen. Die Qualität der Mannschaft ist immer abhängig von der individuellen Qualität der Spieler. Das beste System nützt nichts, wenn die Spieler nicht gut sind.“

Scholls Hauptproblem ist: Wenn er über eine Geschichte wenig weiß, wenn er sich inhaltlich abgehängt fühlt, versucht er dies durch Ignoranz, Arroganz und derbe Worte zu kaschieren. Das war schon bei seinem Guardiola-Bashing so.

Und trotzdem wünsche ich mir, dass Mehmet Scholl noch einmal Trainer wird. Bei den jüngeren Jahrgängen des Fußball-Nachwuchses, also bevor es an die Taktik geht. Dies ist nicht abwertend gemeint. Aber ein Mehmet Scholl könnte jungen Kickern sicherlich wunderbar Spielwitz und technische Dinge wie Dribblings vermitteln. Und auch den Mut dazu.

 

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Dietrich Schulze-Marmeling arbeitet z.Zt. mit Peter Hyballa und Hans-Dieter te Poel an einem Buch mit dem Titel „‚Trainer, wann spielen wir?‘ Spielformen für den Fußball von heute und morgen“ (Verlag Die Werkstatt, Frühjahr 2018). Mehr Infos: http://www.werkstatt-verlag.de/?q=9783730703762

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