Ich glaube nicht, dass Lucien Favre den BVB noch lange trainieren wird. Auch wenn die Führungsspieler Reus und Hummels den Trainer verteidigen. Vielleicht ist bereits nach dem Spiel in Barcelona Schluss. Viele Freunde hat der Schweizer nicht mehr im Verein. Bei den Fans auch nicht.
Ähnlich wie Mauricio Pochettino dürfte Favre (auch) Opfer einer Entwicklung werden, die Helge Worthmann auf onefootball als „Herrschaft der verwöhnten Kinder“ beschreibt. Dass der „Zauderer“ Favre vor dieser Saison nicht vom Titel reden wollte, war vielleicht nur einer nüchternen Einschätzung seines Kaders und der Stärke der Konkurrenten geschuldet. Für viele Medien ist ein solcher Trainer natürlich sturzlangweilig. Populär sind Trainer, die die Fallhöhe hoch setzen. Aber gehört zu den Aufgaben eines Trainers, die Bedürfnisse der Medien zu bedienen?
Der BVB wurde 2018/19 Vizemeister. Vorausgesagt hatte dies kaum jemand. Schon gar nicht, dass der Abstand zum Meister Bayern nur zwei Punkte betragen würde. So besehen hatte Favre over-performed. Enttäuscht war man trotzdem. Dass es am Ende nur zu Platz zwei reichte, wurde Favre angekreidet. Weniger der Mannschaft, die vielleicht einfach noch nicht reif für den Titel war. In der Rückrunde wurde deutlich, dass der Kader des FC Bayern mehr Substanz besaß, als man in den ersten Monaten der Saison gedacht hatte. Vor allem besaß er mehr Substanz als die junge Truppe der Borussen.
Als der BVB Ende November 2018 neun Punkte vor den Bayern lag, waren bemerkenswert viele Menschen, auf deren Einschätzung ich Wert lege, trotzdem skeptisch. Wenn sie Gründe für ihre Skepsis nannten, kam der Trainer nicht vor.
Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass sich der BVB das Thema „Meisterschaft“ aufschwatzen ließ. Dem „Vize“ ging ein wenig der klare Blick verloren. Schon vor dem Saisonstart war klar: Wenn es auch dieses Mal nicht klappt, kann es nur am Trainer liegen, der nicht Meister werden will. Und: Nach dem 2. Platz 2018/19 zählt nur die Meisterschaft!
Hier hatten es Ottmar Hitzfeld und Jürgen Klopp leichter. Als Hitzfeld den BVB übernahm, glaubte kaum jemand, dass der BVB überhaupt noch einmal Meister werden würde. Und beim Amtsantritt von Jürgen Klopp war man bereits seit sechs Jahren nur noch Mittelmaß. Kaum jemand glaubte, dass der BVB in den nächsten fünf Jahren Meister werden könnte. Mit Klopp waren bescheidenere Hoffnungen verbunden.
Mauricio Pochettino ist nun beim FC Bayern im Gespräch. Laut Karl-Heinz Rummenigge passt der Argentinier hervorragend zur Ballbesitz-Philosophie des Klubs. Auch kümmere er sich „nicht defensiv groß um den Gegner.“ Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Ex-Spurs-Spieler Milos Velikovic gegenüber SPOX und GOAL: „Sein Lieblingsthema ist das Pressing. Generell beschäftigt er sich hauptsächlich mit dem Verhalten seiner Mannschaft bei gegnerischem Ballbesitz.“ Der englische Journalist und Taktikexperte Jonathan Wilson sieht eine Ähnlichkeit mit Atlético Madrids Coach Diego Simeone – und dieser ist eher ein Gegenentwurf zu Ballbesitz-Propheten wie Pep Guardiola. Pochettinos Spurs waren ein sehr lauffreudiges Team. Pochettinos Fußball hat mehr mit Jürgen Klopp als mit Pep Guardiola zu tun. Wilson: „Sein Erfolg bei Tottenham basierte genau wie Klopps Erfolg bei Liverpool darauf, dass seine Spieler schneller und stärker sind als die anderen.“
Das Ende seiner Amtszeit im Norden Londons erinnert ein wenig an die letzte BVB-Saison von Jürgen Klopp. 2013 erreichte der BVB das Champions League-Finale – anschließend passierte nicht mehr viel. 2019 qualifizierten sich die Spurs für das Finale. Eine riesige Leistung, wenn man bedenkt, dass der Kader vor dem Start in die Saison null Auffrischung erfahren hatte. Seit seinem Amtsantritt 2014 hat Pochettino nahezu konstant over-performed. Finanziell ist Tottenham nur die Nummer sechs in der Premier League. Beim Pochettino-Fußball sind die Spieler physisch stark gefordert. Bei so einem Fußball stellen sich nach einigen Jahren Ermüdungserscheinungen ein – physische, mentale, emotionale. Als Tottenham gegen Brighton mit 0:3 unterlag, standen neun Spieler auf dem Feld, die für den Klub bereits seit vier oder noch mehr Jahren kicken. Jonathan Wilson schrieb nach der Trennung von Pochettino: „Tottenham zahlt nun den Preis für die letzte Saison, als man nicht eine einzige bedeutende Neuverpflichtung tätigte.“ Wenn die Mannschaft, „jahrelang die fitteste der Liga“, müde wirke, sei dies nicht verwunderlich. Diese Müdigkeit würde vielleicht erklären, „warum Tottenhams Pressing in dieser Saison so offensichtlich weniger intensiv war.“ Geht der Glaube an die Erfolgsträchtigkeit des harten Pressings verloren, kann sich der Niedergang dramatisch gestalten.
Hinzu kam noch Verletzungspech. Vor der Saison 2019/20 holten die Spurs drei Neue. Zwei der Neuen kämpften mit Verletzungsproblemen. Unterm Strich steht die Erkenntnis: Die von Pochettino wiederholt geforderte Auffrischung des Kaders kam zu spät.
In der Saison 2014/15, der letzten von Jürgen Klopp beim BVB, war eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Von den elf Spielern mit den meisten Einsätzen in dieser Spielzeit waren sieben schon bei Klopps erstem Titelgewinn 2010/11 dabei gewesen. Und acht Spieler bei der zweiten Klopp’schen Meisterschaft 2011/12. Sechs Spieler waren bereits sieben Jahre und länger BVB-Profis.
Zurück zu Rummenigge: Seine Behauptung vom Ballbesitz-Philosophen Pochettino zeigt, wie schwierig es ist, einen Trainer zu verpflichten, der nicht nur der Hausphilosophie entspricht, sondern auch noch prominent und nicht „verbraucht“ ist. Vielleicht musste Rummenigge dem Umworbenen deshalb etwas andichten, wofür dieser nicht steht. (Was Pochettino mit Guardiola gemeinsam hat: Er ist ein Trainer, der Spieler besser macht. Und ein starker Coach für junge Spieler.)
Wenn der BVB wieder mehr Klopp’schen Fußball haben möchte, kein Tuchel oder Favre-Spiel, dann ist Pochettino vielleicht die richtige Wahl. Und wenn die Bayern wieder etwas Guardiola haben möchten, also ganz viel Ballbesitz, dann müssen sie Thomas Tuchel verpflichten. Der aber den Bayern bereits abgesagt hat. Vielleicht ja auch, weil er merkt, dass in München ziemlich viel herumgemurkst wird, wenn die Bosse über Spielphilosophien sprechen.
Fazit. Die Verpflichtung eines Trainers, der in jeder Beziehung zu seinem Arbeitgeber passt, ist alles andere als einfach. Das beginnt schon mit seiner Verfügbarkeit. Dass sich nun sowohl die Bayern wie der BVB für Pochettino interessieren, ist vermutlich kaum das Resultat tiefgreifender Überlegungen. Der Mann ist einfach verfügbar. Wie auch – den BVB betreffend – Nico Kovac.