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Fußball

 

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Liverpools glanzloser 1:0-Sieg beim Neuling und Tabellenletzten Norwich war der 25. im 26. Premier-League-Spiel. Beim Blick auf Liverpools Liga-Statistik fallen drei Dinge auf.

1. In den ersten 15 Spielen der Saison 2019/20 kassierten die „Reds“ 14 Gegentore. Nur zweimal spielte man zu null. In den elf Spielen 16 bis 26 ist es dann nur noch ein Gegentor. Liverpool gewinnt zehnmal zu null.

2. Liverpool entschied wiederholt Spiele ziemlich spät: Leicester (2:1): Siegtreffer in der 95. Minute; Manchester United (1:1): Ausgleich in der 85. Minute. Aston Villa (2:1): Siegtreffer in der 94. Minute. Crystal Palace (2:1): Siegtreffer in der 85. Minute. Rückspiel Manchester United (2:0): Schlussphase gehört United, aber Liverpool trifft in der 93. Minute. Wolverhampton (2:1): Siegtreffer in der 84. Minute. Norwich (1:0): Siegtreffer in der 78. Minute. Man bekommt den Eindruck: Auch wenn ein Spiel nicht gut läuft – die „Reds“ wissen, dass sie auch an solchen Tagen schon noch das notwendige Tor schießen werden. Und der Gegner weiß dies auch, weshalb ein Führungstreffer oder Ausgleich nicht den Druck von ihm nimmt. „Die schießen sowieso noch ein Tor …“

3. In der Premier League hatten die „Reds“ in 24 der 26 Spiele mehr Ballbesitz als der Gegner – manchmal betrug der Ballbesitz 66 % und mehr. So u.a. gegen Tottenham (2:1), wo die „Reds“ einen Ballbesitz von 68 % verbuchten. Ausnahmen waren die Spiele daheim gegen Manchester City (3:1, 45:55) und auswärts bei Chelsea (2:1, 45:55). Das Plus beim Ballbesitz war natürlich nicht immer nur Ausdruck von Taktik und Spielphilosophie. Manchmal war es einfach nur eine Folge klarer fußballerischer Überlegenheit. Auch in allen sechs Gruppenspielen der Champions League hatte Liverpool mehr Ballbesitz. Die „Reds“ verloren in Neapel mit 0:2, verzeichneten aber 52 % Ballbesitz. Im Rückspiel (1:1) waren es sogar 72 %.
 

Defensiv immer besser

In der Hinrunde der Saison 2017/18 kassierte Liverpool 23 Gegentore – elf mehr als Spitzenreiter Manchester City. Klopp wurde in seinen ersten beiden Spielzeiten vorgeworfen, er widme der Defensive zu wenig Aufmerksamkeit – auch bei seinen Transfers. Aber er wartete einfach auf den Spieler, der ihm hier tatsächlich weiterhelfen konnte. Dieser kam erst im Januar 2018, in Gestalt des niederländischen Innenverteidigers Virgil van Dijk. Der 26-Jährige wurde dem FC Southampton für 84,5 Mio. Euro abgekauft – Weltrekord für einen Abwehrspieler. Der teure Einkauf wurde durch den Verkauf von Coutinho möglich, den Liverpool für ca. 145 Mio. an den FC Barcelona abgab. Nicht wenige hielten van Dijks Preis für heftig übertrieben. Schließlich ging es nur um einen Abwehrspieler, keinen „Zehner“ oder Goalgetter. Doch schon bald wurde deutlich, dass Klopp die richtige Entscheidung getroffen hatte. Van Dijk trug erheblich zur Stabilisierung der fragilen Defensive bei. Mit dem Niederländer erhielt das Spiel der „Reds“ mehr Balance, wurde das Offensiv-Spektakel von Salah und Co. defensiv abgesichert. In den 19 Spielen der Rückrunde 2017/18 musste Liverpool nur noch 15-mal den Ball aus dem eigenen Tor holen, so selten wie der neue Champion Manchester City.

Im Sommer 2018 holte Klopp dann auch noch den Brasilianer Alisson Becker. 75 Mio. Euro waren erneut Weltrekord, dieses Mal für einen Keeper, aber auch dieser Transfer saß. In der Saison 2018/19 kassierte Liverpool in der Premier League die wenigsten Gegentreffer (22).

Von großer Bedeutung im Liverpool-Spiel sind die beiden Außenverteidiger Robertson und Trent Alexander-Arnold. Beide im Übrigen ein Schnäppchen. Der Schotte Andrew Robertson (25) kam für 9 Mio. Euro vom damaligen Absteiger Hull City – Klopp schaute sich wiederholt bei Absteigern um. Alexander-Arnold (21) spielt seit seinem sechsten Lebensjahr für die „Reds“. Für Christoph Biermann (11 Freunde) agieren die beiden Außenverteidiger wie Spielmacher. Biermann verweist hier auf die veränderte Rolle des Spielmachers: „Es geht nicht mehr einfach darum, schön zu spielen, sondern schön innerhalb des Systems.“ Der Spielmacher müsse nicht mehr aus der Zentrale kommen, wie die klassische Zehn. Und es gäbe auch nicht mehr den einen Spieler, der das Spiel lenke. Mit der Zeit habe sich der klassische Spielmacher zurückgezogen, um sich der gegnerischen Bewachung zu entziehen und das Spiel mehr aus der Tiefe aufzuziehen. Aber dies funktioniere heute auch nicht mehr, „weil eine Grundbedingung fürs Spielmachen inzwischen gänzlich abhandengekommen ist: Zeit und Raum. Beides gibt es kaum noch, schon gar nicht im Spitzenfußball unserer Tage.“ So muss die Spielmacherrolle auf mehrere Schultern verteilt werden.

Liverpools Co-Trainer Peter Krawietz erzählt redfellas.org:

„Wir versuchen natürlich, unser Außenverteidiger in Situationen zu bringen, in denen sie die letzte gegnerische Linie durchbrechen können. Die beiden haben dazu die Fähigkeiten, weil sie wahnsinnig schnell sind und mit ihrem guten Timing den richtigen Pass abwarten können, um im richtigen Moment in die richtige Position zu kommen. Dass wir an der Präzision der Hereingaben arbeiten, wenn wir dieses Mittel der Spielverlagerung und -beschleunigung mit Durchbrüchen über die ballentfernte Seite anwenden, ist klar.“


„Mentalitätsmonster“

Nach dem 4:0-Sieg über den FC Barcelona im Halbfinale der Champions League 2018/19 attestierte Klopp seinen Spielern, sie seien „Mentalitätsmonster“. Nun ist das mit der Mentalität so eine Sache. Fehlende Mentalität wird häufig dann diagnostiziert, wenn man eine schwache Vorstellung nicht anders erklären kann. Über einen Mangel an Mentalität kann jeder Laie schwadronieren. (Ähnlich wie über einen Mangel an „Körpersprache“.) Trotzdem sollte man die Bedeutung von Mentalität für ein Spiel oder eine individuelle Karriere nicht unterschätzen. Schalkes legendärer Jugendtrainer Norbert Elgert hat mal sinngemäß gesagt, Mentalität sei auch eine Form vom Talent.

Doch darf man sich das mit der Mentalität nicht so einfach vorstellen: Fetzige Ansprache des Trainers – und schon galoppieren die Spieler. Julian Nagelsmann, in manchen Dingen ähnlich gestrickt wie Klopp, erzählt im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“: „Motivierende Ansprachen sind das eine. Aber noch wichtiger ist es, Spieler zu finden, die eine hohe intrinsische Motivation mitbringen. Alles, was von außen kommt, ist weniger nachhaltig. Das ist auch witzig bei Jürgen Klopp: Jeder glaubt bei ihm, dass er die Spieler jeden Tag anpeitscht. Aber das nutzt sich ab. Deshalb reduziert er eher sein Leadership – und sucht gezielt Spieler, die sich selbst hochziehen. Ich glaube nicht, dass Kloppo einen Virgil van Dijk jeden Tag am Kragen packen muss.“

Im Dezember 2019 schilderte Pepijn Lijnders, Klopps niederländischer Co-Trainer, dem „Guardian“ einige Kernelemente des Trainings in Melwood. Dabei wurden zwei Dinge deutlich.

1. In Melwood wird das Rad nicht neu erfunden.

2. Nicht nur der Inhalt von Trainingsformen ist wichtig, sondern auch das Coaching während dieser.

Eine Übung der „Reds“ besteht darin, dass Tore im Trainingsspiel nur zählen, wenn alle Spieler der ballbesitzenden Mannschaft die Mittellinie überquert haben. Geübt wird „räumliche Geschlossenheit“, kollektives Vorrücken. LiIjnders: „Die Leute sagen, wir seien in diesem und jenem gut. Aber das Wichtigste, was wir können, ist: dass wir immer zusammen sind.“ (Dies knüpft an eine alte Tradition der „Reds“ an: kollektiver Fußball – Liverpool stand hierfür immer mehr als das „individualistische“ Manchester United.)

Eine weitere Übung ist das 5-gegen-2-Rondo, hierzulande auch Kreisspiel genannt. Lijnders: „De facto ist dies ein Pressing-Rondo. In unserem Spiel geht es um Bewegung und Geschwindigkeit. Die beiden Jungs in der Mitte werden dazu ermutigt, den Ball noch während der ersten Pässe zu erobern. Gelingt ihnen das, dürfen beide gleichzeitig die Mitte verlassen. Ansonsten darf nur der Spieler herausgehen, der den Ball erobert hat. Dies stimuliert unsere Gegenpressing-Vision, wo wir versuchen, den Spielaufbau des Gegners bereits innerhalb ihrer ersten Ballkontakte zu unterbrechen.“ Und eine dritte Übung: Drei Teams von jeweils drei Spielern auf einem engen Feld. Zwei Teams haben Ballbesitz. Erobert das dritte Team den Ball, muss das Trio, dem der Spieler angehört, der den Ball verloren hat, den Balljäger spielen. Geübt wird hier der schnelle Szenenwechsel. Und dass die Spieler nicht eine Sekunde damit hadern, dass sie einen Ball verloren haben.

Übung eins und drei gehörten zu den Lieblingsübungen des Autors, als er noch Trainer war. Also nichts Sensationelles. Von Interesse ist hier das Coaching. Lijnders betont dessen Bedeutung, im Sinne der Schärfung der Mentalität: „Wenn ein Team den Ball verliert, wirst du hören, wie Jürgen, Peter (Krawietz) oder ich schreien: ‚Geh. Hol dir den Ball zurück. Stopp nicht!‘ Und zwar so laut, dass man es bis nach Manchester hört. Sie müssen verstehen, warum das wichtig ist. Diese Kraft und Emotion ist unser Spiel.“
 

Nicht nur gegen den Ball

Klopps Liverpool beherrscht sowohl das Spiel mit Ball wie ohne ihn. In Deutschland wurde Klopp im letzten Jahr beim BVB vorgeworfen, er habe keinen „Plan B“, könne nur Gegenpressing und Umschaltfußball.

Im Oktober 2016, Klopp schwang nun seit einem Jahr das Zepter beim FC Liverpool, veröffentlichte der „Kicker“ einige Statistikdaten zum Spiel der „Reds“. Liverpool hatte die meisten Tore erzielt (73), vor City und Tottenham (je 70). Ronald Koemann, zu diesem Zeitpunkt Trainer des Lokalrivalen FC Everton: „Kein Topklub der Liga traut sich, wirklich Angriffsfußball zu spielen – mit Ausnahme von Liverpool.“ Bei der Distanz, die eine Mannschaft im Schnitt pro Spiel lief, lagen die „Reds“ mit 114,5 Kilometern auf Platz drei. Nur Tottenham und Bournemouth liefen mit jeweils 115,5 noch mehr. Hingegen belegte Liverpool bei den fürs Gegenpressing elementaren Sprints mit 561 pro Spiel Platz eins – gefolgt von Tottenham (542) und Arsenal (539). Bis hierhin unterschied sich die Geschichte nicht wesentlich von Klopps besten Jahren in Dortmund. Womit der Leser nicht unbedingt gerechnet hatte: Die „Reds“ waren auch beim Ballbesitz top. Dieser betrug im Schnitt 59 %. City und Arsenal, die beiden Teams, die in der Premier League gewöhnlich am stärksten mit Ballbesitzfußball in Verbindung gebracht werden, kamen auf 58 %.

Klopps „Reds“ hatten offensichtlich mehr als nur Umschaltspiel und Pressing/ Gegenpressing zu bieten. Wenn Klopp davon sprach, er sei ein „besserer Trainer“ geworden, dann beinhaltete dies wohl auch, dass er seinen Fußball der Dortmunder Jahre mit weiteren Zutaten bereichert hatte.

Das Einüben von Ballbesitz war auch nötig, denn je besser die „Reds“ wurden, desto stärker agierten die Gegner abwartend, wollten den Ball selber nicht haben und positionierten sich tief. Wenn der Gegner tief verteidigt, ist nichts mit schnellem Umschaltfußball. Man muss Lösungen mit dem Ball am Fuß finden. (Alternative: Der bewusste Ballverlust, um dann ins Gegenpressing zu gehen. Ist aber kaum ständig zu praktizieren. Manchmal wird ein solcher unterstellt, wenn der Ballverlust in Wahrheit einzig und allein dem Tempo des eigenen Spiels geschuldet ist.) Peter Krawietz: „Wir haben die Qualität unseres Ballbesitzes verbessert. Wir bekommen nun auch unter hohem gegnerischen Angriffspressing einen zielgerichteten, spielerischen Aufbau hin – und dies mit einer sehr hohen Zuverlässigkeit.“ Taktikexperte Tobias Escher über Klopps Liverpool: „Seine Spielweise ist auf Dominanz gepolt, und seine Spieler gönnen dem Gegner keine Ruhe, wenn er den Ball hat, sich selbst aber schon, wenn sie den Ball haben.“

Wie wichtig Ballbesitz nun war, dokumentiert auch die Debatte über den Rasen in Anfield. Das durch den Wind stets sehr trockene Spielfeld störte einen auf präzisen und schnellen Pässen beruhenden Ballbesitzfußball und das Tempo nach Balleroberung. Torwarttrainer John Achterberg: „Wir hatten immer wieder Probleme gegen Teams, die sich mit elf Mann hinter dem Ball positionierten. An sonnigen Tagen war ich stets besorgt, dass wir Probleme bekommen würden, weil der Rasen zu stumpf war, um den Ball schnell zu bewegen. Nach einem 4:0-Sieg gegen Southampton im Mai 2017 sprach Klopp dies öffentlich an. Die FSG ließ daraufhin ein neues Bewässerungssystem installieren.

Vielleicht befindet sich die häufig platt vorgetragene Gegenüberstellung von Ballbesitz und Umschaltspiel vor ihrer Auflösung. In der Bundesliga ist eine derartige Tendenz bei den Trainern Marco Rose und Julian Nagelsmann zu beobachten. Während Rose den manchmal etwas schwerfällig wirkenden Ballbesitzfußball der Gladbacher um laufintensives Pressing und den schnellen Torabschluss bereicherte, entdeckt man nun bei der Pressingmaschine RB Elemente von Ballbesitzfußball und Spielwitz.

Tobias Escher über die Mannschaften der beiden Trainer: „Ihre Teams sind Alleskönner, wie die Franzosen bei der letzten Weltmeisterschaft. Mal stören sie früh, mal ziehen sie sich zurück; mal halten sie den Ball, mal spielen sie direkt in die Spitze. Das Jahrzehnt der klar getrennten Fußballphilosophien ist vorbei. Wer heute erfolgreich sein will, muss alle Facetten des Spiels beherrschen.“

 

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