Peter Hyballa (40) ist seit Sommer 2016 Cheftrainer beim niederländischen Erstligisten NEC Nijmegen. Begonnen hat er seine Trainerkarriere im Nachwuchsfußball seiner Heimatstadt Bocholt. Anschließend trainierte Hyballa Preußen Münster U17, Arminia Bielefeld U19, Ramblers Windhoek (Namibia), VfL Wolfsburg U17 und U19, Borussia Dortmund U19, Alemannia Aachen (2. Bundesliga), Red Bull Juniors Salzburg, Sturm Graz, Bayer Leverkusen U19 und für fünf Bundesligaspieltage Bayers Profis (gemeinsam mit Sascha Lewandowski – mit dem Ergebnis von 13 Punkten aus fünf Spielen, wodurch die Werkself noch in die Qualifikation zur Champions League kam).
Desweiteren ist Hyballa Autor mehrerer Fußball-Lehrbücher (gemeinsam mit Hans-Dieter te Poel) und gibt Trainerfortbildungen im In- und Ausland. Er ist Mitglied beim deutschen sowie beim niederländischen Profitrainerverband BDFL und CBV und schreibt auch für die DFB-Fachzeitschrift „fussballtraining“.
Dietrich Schulze-Marmeling sprach mit Hyballa über Defizite und neue Herausforderungen in der Nachwuchsförderung, fehlende Dribbler, den niederländischen Blick auf den deutschen Fußball und anderes mehr.
DSM: Reden wir über Konzeptfußball….
Hyballa: Ich komme ja selber auch über Konzept. Aber wir müssen aufpassen, dass die Empathie im Fußball nicht verloren geht. Empathie ist noch immer das allerwichtigste. Danach kommen Matchplan, Taktik. Aber du merkst schon, dass die NLZ-Spieler (NLZ: Nachwuchsleistungszentrum, eine Einrichtung der Profivereine) von heute genau wissen wollen, was sie zu tun haben. Als Trainer schaust du dir ein Spiel an, denkst darüber nach, mit welchem Gegengift du der Dreierkette des Gegners begegnen kannst. Und dann fällt das entscheidende Tor durch einen abgefälschten Freistoß. Dann zerkleinerst du den abgefälschten Strafstoß in ganz viele Stückchen, und schließlich wird nicht mehr über den abgefälschten Freistoß geredet, sondern darüber wie dieser Freistoß zustande kam.
Vor allem in Nachwuchsleistungszentren, aber zunehmend auch in Profimannschaften benutzt man heute die Konzeptsprache. Warum? Junge Spieler wollen von ihrem Trainer einfach wissen, ob gegen einen Gegner mit Dreierkette der 9er oder der 10er draufgehen und der 8er hochschieben soll. Der 16-Jährige wird uns selbstverständlich fragen: „Trainer, der Gegner kommt im 4-4-2, laufen wir ihn im 4-4-1-1 an und wo steuern wir hin? Spielen wir einen Chipball oder Tiki-Taka?“ Die Spieler von heute sind Experten in Raum und Zeit im Kontext von Matchplänen geworden. Und sie merken, dass ihnen neuartige Sprachbilder, häufig selbst erfunden und sogar codiert und verschlüsselt abgesprochen und dargeboten, helfen, schnell, präzise, sicher und kooperativ auf dem Spielfeld zu handeln.
Aber irgendwann merkst du, dass du auch als Trainer nicht mehr so frei bist. Du ertappst dich dabei, dass du „Konzentration!“ hineinrufst oder „bewegt euch!“, – das ist ja eigentlich schon ein No-Go. Aber es geht dabei nicht um einen taktischen Anspruch, sondern darum, eine Verbindung zu den Spielern herzustellen. Aber heute muss alles intellektuell sein, es muss alles wissenschaftlich sein. Aber wir müssen aufpassen. Konzeptsprache ist ja auch ein bisschen beziehungslos. Binden, isolieren, parken, abklemmen – das sind Wörter aus dem Bereich des Wasserinstallateurs. Und ich finde es immer noch wichtig, einen Spieler zu fragen: „Wie geht es dir? Was macht deine Freundin?“
Ich habe jetzt 14 internationale Jungs in meinem Kader. Da ist es schon wichtig zu wissen: Was machen die eigentlich so? Wie denken die? Ich glaube, dass hierzu in den nächsten Jahren eine separate Ausbildung kommen muss.
DSM: Ohne empathische Zuwendung kommst du auch mit deiner Wissenschaftlichkeit nicht weiter, gelangen deine Analysen und Lösungen nicht in die Köpfe der Spieler. Immer nur die Taktik zu erklären, kommt irgendwann in den Köpfen nicht mehr an.
Hyballa: Genau. Wenn ich zurückblicke, dann waren die erfolgreichsten Spiele meiner Mannschaften die, wo Spieler für mich durchs Feuer gegangen sind, aber auch umgekehrt. Trainer ist dein Beruf, dein Job, aber es geht es auch um eine pädagogische Verbindung mit Spielern. Mannschaften, bei denen ich am meisten mit durchs Feuer gegangen bin, da habe ich auch heute noch Kontakt mit den Spielern. Du bist auch ein Vater deines Teams. Und wenn du nur über Konzept, nur über Analyse kommst, bist du nur noch der Anwalt des Teams, aber nicht mehr der Vater. Du verteidigst deine Mannschaft, aber doch nicht mit kompletter Hingabe. Auf der anderen Seite muss ich ganz klar sagen: Videoanalysen, Jungs aus anderen Sportarten und ihre Ideen, die Verwissenschaftlichung – all diese Dinge haben uns auch zum Weltmeister gemacht.
Wir sind im Auseinandernehmen des Spiels, im Entwerfen von Gegenmodellen zur gegnerischen Taktik, im Spielaufbau, im Pressing bzw. wie du anpresst, ob der Zehner aussticht oder der Außenstürmer einläuft – in diesen Dingen sind wir top, das hat uns nach vorne gebracht.
Die richtige Mischung finden
DSM: Aber du musst die richtige Mischung finden. Gerade im taktischen Bereich waren wir ja hinter den anderen, in Italien war es den Kickern quasi in die Wiege gelegt. Dann konzentriert man sich darauf, dieses Defizit abzustellen. Wir Deutschen sind ja auch sehr gründlich und holen es 150%ig nach – und dann stellen wir fest: Scheiße, jetzt haben wir darüber etwas anderes vernachlässigt. So wie mit Passspiel und Dribbling. Wir lehren one touch, kurze Ballhaltezeiten, den Gegner durch kurze, schnelle, präzise Pässe und Positionswechsel aus seiner Position zu spielen. Und plötzlich stellen wir fest, dass es kaum noch Spieler gibt, die das Eins-gegen-eins suchen und sich hier auch durchsetzen – weil wir die ganze Zeit darauf bestanden haben, sich möglichst schnell vom Ball zu trennen. Was nicht falsch war, zumal angesichts dessen, dass wir das vorher nicht konnten, aber dadurch wurde etwas anderes ungewollt diskreditiert. Etwas, das wir dringend benötigen, gerade die starken Teams, weil sich die Gegner hinten reinstellen. Und das kann so ziemlich jeder, das kann ich auch einer Mannschaft beibringen, der es an technischer und spielerischer Qualität mangelt.
Hyballa: Genau. Ich spreche öfters in Kolumnen oder bei Trainerausbildungen von basics. Und davon, dass Dribbling heute kein basic mehr, sondern ein special geworden ist. Basic ist heute, in einer 4-4-2-Grundordnung aufzustellen. Dafür kannst du auch elf Leute von der Straße nehmen, die noch nie Fußball gespielt haben. Aber ein 4-4-2 mit Verschiebewegen und so, wo der Ball nicht dabei ist – das ist nicht so schwer. Aber es wird immer noch so getan, dass das taktische das Zaubermittel schlechthin ist. Und ich glaube, dass die große Zutat die Menschenführung und der Ball ist. Das muss wieder stärker in die Trainerausbildung rein. Denn jeder sagt jetzt: Wir brauchen Dribbler. Jetzt ist die Frage: Wie lange sagen wir das noch? Und wie sehen wir jetzt diese Dribbler? Vor zehn, 15 Jahren haben wir gesagt: Wir sind taktisch nicht gut genug. Guck mal nach Frankreich, guck mal nach Holland, guck mal in Spanien. Von diesen Ländern haben wir auch viele Übungsformen gestohlen. Ich war viel im Ausland.
Was den Deutschen natürlich ausmacht: Wir wollen immer perfekt sein. Wir wollen immer die Besten sein. Wir wollen immer Ordnung haben. Wir wollen immer die Pünktlichsten sein. Wir wollen immer noch besser als die anderen sein. Darum fühle ich mich auch wohl in Deutschland. Auf der anderen Seite ist es manchmal übertrieben perfekt. Unsere Sprache ist konzeptionellste Joystick-Konzeptsprache geworden. Jetzt überholen wir uns bereits. Wir müssen auch mal wieder gucken, ob die Jungs Spaß beim Training haben, ob sie mal wieder Lachen. Oder wollen wir jetzt nur noch Joystick-Spieler?
Jetzt haben wir die EM gesehen. Wenn du mit Leuten sprichst, dann hat es vom Vergnügungswert keinen so richtig vom Hocker gehauen. Aber von den Matchplanideen der Trainer her war es interessant. Es war häufig so: Das Team muss stehen, gerade gegen den Ball, gegen den Ball, gegen den Ball – und vorne hoffen wir dann auf den Lucky Punch.
DSM: Turnierfußball – auch dadurch befördert, dass noch einige der Gruppendritten weiterkamen. Taktik ist dann vor allem die Waffe des fußballerisch weniger beschlagenen Teams – der Underdogs. Und das Spiel gegen den Ball kannst du einfacher und schneller vermitteln als das Spiel mit dem Ball. Außerdem musst du keinen Offenbarungseid bezüglich deiner technischen Fähigkeiten leisten.
Hyballa: Auf der anderen Seite verstehe ich es auch. Konzept ist etwas, was über eine längere Zeit seinen Wert hat. Beim Trainer beträgt das Mindestdatum nur etwa drei Wochen. Dass beißt sich mit dem Konzeptdenken. Wenn du drei Spiele in Folge verlierst, ist das so, wie wenn du in der 9. Runde eines Boxkampfes angezählt wirst. Dann ist man eigentlich weg. Mittlerweile sprichst du mit vielen Funktionären und Medien auch über taktische Dinge. Die werfen dann immer irgendetwas rein: Warum spielen wir nicht 4-4-2 mit Raute, haben sie mal von gehört, und dann versuchst du, ihnen deine taktischen Überlegungen näherzubringen. Das finden sie auch spannend. Ich habe viele Trainerjobs gekriegt, weil ich über ein Spielsystem erzählt habe, über isolieren, binden, abklemmen. Das finden die spannend. Dann gilt man als Trainer der neuesten Generation. Ich weiß nicht, ob ich die Jobs immer bekommen hätte, wenn ich gesagt hätte, dass wir zusammenhalten, dass wir mal ein Barbecue machen müssten – obwohl das auch wichtig ist. Gerade in Mannschaften, deren individuelle Qualität nicht so hoch ist, musst du einen Team-Spirit hineinkriegen.
In Holland wirst du als Trainer immer noch mit der Frage und Diskussion konfrontiert, wo du Fußball gespielt hast? Wenn du nicht selber Profi warst, dann hast du kaum eine Chance auf einen Trainerjob im Profibereich. Gott sei dank ist das in Deutschland nicht mehr so der Fall. Heute kommen viele Trainer aus wissenschaftlichen und pädagogischen Bereichen. Aber noch ist es in der Eredivisie total unmöglich, dass ein 28-Jähriger – wie Julian (Nagelsmann) in Hoffenheim – Cheftrainer wird. Julian ist mit seinen 28 Jahren sicherlich eine Ausnahme, aber du findest heute in allen Ligen 34-Jährige. Ich war damals 34, als ich in der 2. Bundesliga Trainer bei Alemannia Aachen wurde. Das ist in Deutschland anders als in Holland.
Holländische Philosophie
DSM: Ausländische Übungsleiter sind in Holland offensichtlich nicht sehr populär. Wie viele ausländische Trainer gibt es zur Zeit in der Eredivisie?
Hyballa: Drei. Bei Roda hast du einen griechischen Trainer, Yannis Anastasiou. Bei ADO Den Haag Zeljko Petrovic. Und mich bei NEC Nijmegen. Aber Anastasiou und Petrovic haben beide in Holland gespielt. Sie können beide Holländisch. Und ich bin halber Holländer. Bei Twente war von 2010 bis 2013 Steve McClaren Trainer, der konnte kein Holländisch. Aber die Holländer können ja häufig auch Englisch.
Die geringe Zahl ausländischer Trainer hat zwei Gründe: Hier gibt es nicht so viel Geld zu verdienen wie in Deutschland, England oder Spanien. Und der Holländer fand seine Philosophie bislang auch gut, sah keinen Anlass, sie um neue Ideen von außen zu bereichern. Jetzt bröckelt das ein bisschen, weil man die Qualifikation zur EM 2016 nicht gepackt hat.
Kommen wir zur Nationalmannschaft: Da ist van Basten raus. Gullit war erst drin, jetzt ist er wieder raus. Van Basten und Gullit sind nach Johan Cruyff die Größten. Die sind dann Trainer. Ich glaube nicht, dass viele Experten in Holland gute Trainer wie Thomas Schneider oder Markus Sorg kennen. Aber Danny Blind, Gullit, van Basten sind natürlich gute Feldtrainer. In den Niederlanden ist man noch sehr auf Ex-Profis fixiert. Es ist dort deutlich schwieriger, vom Jugendtrainer als unbeschriebenes Blatt im Profi-Zirkus zum Cheftrainer eines Profiklubs aufzusteigen. Deutschland ist da viel durchlässiger. Der Fokus liegt hier viel eher darauf, dass der Trainer auch gut ausgebildet ist. Und das muss bei Trainern, die keine großartige Spielerkarriere hinter sich haben, gegeben sein. Denn wegen eines großen Namens werden sie nicht eingestellt. Wir in Deutschland schauen unheimlich stark auf Inhalte. Das hat auch mit dem veränderten Spielerklientel zu tun. Ich bin ja ein Kind des NLZ und habe die Entwicklung deshalb über Jahre mitbekommen. Anfangs haben wir das Spiel nicht so dermaßen auseinandergenommen. Früher haben die Spieler gefragt, in welcher Grundordnung spielen wir, und machen wir es offensiv oder defensiv – und heute geht es darum, wer beim Mittelfeldpressing wie rausschiebt, wer wieviel Abstand dahinter hält, und ob wir in die Mitte lenken, zum Zwei-gegen-eins, oder ob wir nach außen lenken, und wie wir offen und wie geschlossen stehen. Ich bin davon überzeugt, dass viele 17-Jährige, die in den NLZs aufgewachsen sind, taktisch gesehen sofort die B-Lizenz machen könnten. Wenn du denen ein Video vorspielst und sie aufforderst, das mal etwas individual- und gruppentaktisch auseinander zu nehmen – das können die. Ob sie es empathisch rüberbringen können – keine Ahnung.
Die Jungs von spielverlagerung.de, die ich sehr schätze, finden das natürlich supergeil. Und die gefühlvollen Feldtrainer sagen: Das ist too much. Wir müssen uns ein bisschen mehr in der Mitte finden. Wenn Hans-Peter und ich vor zehn Jahren ein Buch über Dribbling gemacht hätten – na ja, wäre wohl nicht so angesagt gewesen. Aber jetzt suchen wir wieder nach Dribblern. Das siehst du auch in den Jugendspielen. Dort erlebt man häufig so ein taktisches Patt. Da denkst du dann: Spiel doch mal einen aus! Das fehlt häufig. Da müssen wir wieder hinkommen.
Die NLZs
DSM: Kann es sein, dass die NLZs zu stark denselben Spielertypen produzieren?
Hyballa: Wir hatten mal eine Diskussion, nachdem wir uns mit einigen Konzepttrainern ein Training angeschaut haben. Da wurde einfach Flanke rein, Klatsch, Abschluss gespielt. Reaktion der jungen Konzepttrainer: Was ist das denn für eine Übung!? Dann habe ich gesagt: Leute, das ist eine Super-Übung! Ich bin ja auch einer dieser Konzepttrainer – aber nicht nur. Diese jungen Konzepttrainer schauten, wie der Laufweg ist, wie weit der Abstand ist – und ich schaue dann auch, ob der Ball gut reingespielt wird. Auch bei Standards gucken ganz viele nach Laufweg A, Laufweg B, Raumziehen, Raumblocken – aber manchmal habe ich das Gefühl, die gucken gar nicht mehr, wie der Ball reingespielt wird. Manchmal denke ich bei dem Aufbau von Übungen: Anspielen, Klatschen lassen, Draufpöhlen – auch das ist Fußball.
Vielleicht wird in den NLZs manchmal zu gleichförmig erzogen. Aber ich sage noch einmal: Wir sind führend in der Welt. Hans-Dieter te Poel und ich haben ja noch 2011 ein Buch über den niederländischen Fußball herausgebracht. Man sprach viele Jahre von der „holländischen Schule“. Heute spricht man in Holland mit großem Respekt von der „deutschen Fußballschule“. Ich bin dort ein Trainer aus der „deutschen Fußballschule“. Ich bin – wie schon erwähnt – ein Kind der NLZs. Und ich finde die NLZs großartig von ihrer inhaltlichen Struktur her, dass wir heute alle Kunstrasenplätze haben, dass die analytische und die medizinische Versorgung stimmen. Ich komme von der Uni. Und ich fand es immer wichtig, dass man mit Unis arbeitet. Das gibt es jetzt alles. Du hast individuelle Begleitung, du hast Fitnesstrainer, die alleine mit einem 15-Jährigen arbeiten. Aber wenn du alle Philosophien der NLZs miteinander vergleichst, die kann man auf den Homepages der Vereine lesen, dann ist das alles etwas ähnlich. Aber: Die NLZ-Spieler haben uns zum Weltmeister gemacht – Schürrle auf Götze: Tor.
DSM: Überhaupt keine Frage. Eine gigantische Verbesserung gegenüber der Situation, die wir vorher hatten. Es ist halt wie im richtigen Leben. Du arbeitest an einem Defizit, an der Perfektionierung einer Sache, die du bislang vernachlässigt, nicht beherrscht hast – und parallel dazu gedeiht ein neues Defizit. Im Fußball gibt es immer wieder diese Pendelbewegungen. Zu wenig Taktik folgt zu viel Taktik etc. Von daher ist es irgendwie logisch, dass Hans-Dieter und du nun 400 Seiten zum Thema „Dribbling“ liefern – nachdem ihr uns vorher mit addiert 700 Seiten Passspiel malträtiert habt…
Hyballa: Du hast ja über George Best geschrieben. Damit willst du doch auch die Liebe zum Dribbling wieder in die Leute reinkriegen. Und Charisma in den Fußball. Warum lesen alle die „11Freunde“? Weil es diese Geschichten, die es mal im Fußball gab, so nicht mehr gibt – die Emotionen, die Empathie.
Und ich muss heute keinem U19-Spieler erzählen, dass er um 23 Uhr im Bett liegen soll. Die büxen nicht aus. Aber wenn du nicht auch mal Scheiße baust, im Trainingslager oder so, vielleicht machst du dann auch keine Scheiße – im positiven Sinne – im Spiel. Vor zehn Jahren musstest du schon mal sagen: Ruhig bleiben, wir konzentrieren uns hier sehr auf Fußball. Das ist heute nicht mehr nötig. Die beschäftigen sich mit ihrem Mobiltelefon, mit ihrem iPad, mit der PlayStation. Es gibt sogar Leute, die lesen Bücher. Im Bus werden hinter mir sehr viele Biografien gelesen. Da drehe ich mich um und frage mich, ob ich das jetzt überhaupt gut finde, dass die halbe Mannschaft während der Busfahrt Bücher liest. (lacht) Aber vor zehn Jahren hast du denen gesagt: Nun lies doch endlich mal ein Buch!
Eine nötige Balance finden
DSM: Wie haltet ihr bei NEC die Balance zwischen „wissenschaftlichem“ Konzeptfußball und der Notwendigkeit von Empathie?
Hyballa: Bei NEC Nijmegen arbeite ich mit einem Videoanalysten zusammen, der ist 21. Wenn ich mich mit dem über Fußball austausche, über Spielanalyse, ist das hochintellektuell und hochinteressant. Aber ich arbeite auch mit einem Co-Trainer, Ernie Brandts (Vize-Weltmeister mit den Niederlanden 1978, über 452 Spiele in der Eredivisie, davon 251 für PSV Eindhoven), der über eine ganz andere Schiene kommt, über Empathie, über ganz viel Erfahrung. Ernie war auch selber in Afrika jahrelang als Trainer tätig. Und mit diesen beiden unterschiedlichen Personen zusammenzuarbeiten, finde ich super spannend. Mit Ex-Profis zu arbeiten, die etwas anders erlebt haben als ich, aber auch mit einem Hockeytrainer, der ganz jung ist und von der Uni kommt. Wie positiv das ist, merken wir im Team. Das klappt super. Und wir Deutschen können zeigen: Wir haben einen Plan. Sehr konzeptbehaftet, aber wir sind neugierig auf das, was sich im Ausland tut. Ich nenne da nur die Coerver-Trainer oder Harry Dost als Fitness- und Athletiktrainer von Twente, mit dem wir ein Buch zu diesem Thema gemacht haben. Ich glaube, diese Offenheit, die wir seit Jahren gegenüber dem zeigen, was im Ausland gemacht wird, die hat den Deutschen keiner zugetraut.
DSM: Du nennst Wiel Coerver, den legendären niederländischen Techniktrainer und Begründer der Coerver-Schule. In den 1960er und 1970er Jahren analysierte Coerver intensiv Videoaufnahmen von Weltklassespielern wie Pelé, Beckenbauer und Cruyff. Damals war man noch der Auffassung, dass es sich bei diesen Akteuren um Naturtalente handeln würde und technische Fähigkeiten folglich angeboren seien. Also unterschied in erster Linie die Natur den Weltklassespieler vom „normalen“ Fußballer. Hier die Südamerikaner, dort die Europäer. Die Natur als hauptsächlicher Bestimmungsfaktor für die Qualität des Fußballers und der Fußballkulturen. Coerver mochte dies nicht akzeptieren und brach nun einen Mythos auf. Er zerlegte die Bewegungsabläufe und Tricks der Weltstars in ihre einzelnen Bestandteile, die nun in ihrer vereinfachten Form mit Jugendfußballern trainiert wurden. Coerver ging davon aus, dass sich der Spieler zunächst individuell verbessern müsse; seine Entwicklung im Gruppen- und Mannschaftsprozess habe erst im zweiten Schritt zu erfolgen. Denn die Basis eines guten Fußballers seien Technik und Tempo. Coerver: „Fußball ist nur einfach für die wenigen Topspieler, die mit ihrem technischen Können und mit ihrer Schnelligkeit in einem kleinen Raum und unter Druck verschiedene Gegenspieler austricksen können.“ Die Jugend müsse von Trainern ausgebildet werden, „die alle Scheinbewegungen und andere Balltechniken von Pelé, Cruyff, Maradona, Romario, van Basten etc. perfekt demonstrieren können“. In eurem Buch gibt es auch einen Beitrag von René Meulensteen, Alex Fergusons Coerver-Trainer.
Hyballa: Ja, Meulensteen hat über lange Jahre hinweg Tag für Tag mit Weltstars zusammengearbeitet und hierbei Erfahrung „on the pitch“ gesammelt. Für Meulensteen muss Fußballtraining grundsätzlich immer die Entwicklung technisch starker, selbstbewusster und kreativer Spieler in den Mittelpunkt der Arbeit auf dem Platz stellen. Ganz wichtig ist für ihn das Beherrschen von Eins-gegen-eins-Situationen einschließlich Dribblings. Was nicht nur für Angreifer, sondern auch für Abwehrspieler gilt.
DSM: Genau. Bei der EM haben wir ja gesehen, dass uns auch auf den defensiven Außenpositionen Dribbler fehlen, sodass nur die Option der Flanke blieb. Oder der Vorstoß wird vor dem letzten Drittel abgebrochen, um den Ball dann quer oder nach hinten zu spielen.
Wir sind ja seinerzeit von der Öffnung des DFB gegenüber Erkenntnissen anderer Länder selber überrascht worden. Schon dadurch, dass Klinsmann Bundestrainer wurde und sich der DFB es gefallen ließ, dass mit ihm und Löw Leute die Nationalmannschaft übernahmen, die sinngemäß erklärten: Vergesst die deutschen Fußballtugenden und deren angebliche Überlegenheit. Tradition interessiert uns nicht wirklich. Wir arbeiten an einer neuen Fußballkultur. Da habe ich damals gedacht: Schöne Idee. Aber zu schön, um wahr zu werden. In diesem Land geht das nicht.
Hyballa: Und dazu gehörte auch, dass ein Klinsmann gesagt hat: Ich komme nicht zu diesem Trainerkurs, ihr könnt mich zuschalten, von Kalifornien aus, vom Strand. Er hat auch das Mediale beherrscht. Wo du erst denkst: geht doch nicht. Darum geht es einem Trainer doch. Sehen und gesehen werden. Aber Jürgen hat einfach gesagt: Ihr könnt mich hinzuschalten. Für mich geht es um Inhalte! Sehen und gesehen werden, das brauche ich nicht mehr, ich habe als Spieler schon genug Applaus bekommen. Zuerst hast du gedacht: Hat der sie noch alle? Aber dann: Er hat doch Recht. Heute nutzt du mal kurz Skype – und dann läuft es doch.
Im Dezember mache ich eine Trainerfortbildung in Malta. Ganz junge maltesische Trainer. Dort wird Englisch gesprochen – also kein Problem. Und du merkst schon jetzt: Die sind total up to date, weil die ständig im Internet sind und sich mit der ganzen Welt verbinden. Ich weiß gar nicht, wie viele Taktikblogs es bereits weltweit gibt. Dabei ist es immer besonders interessant, wenn sie deine Mannschaft auseinandernehmen. Wie haben die das gesehen?
„Jugendtrainer wollen natürlich auch Resultate“
DSM: Da hat sich ja unglaublich viel verändert. Das merkst du schon im Dorfverein. Jeder junge Spieler kann sich heute anschauen, wie in Brasilien, Spanien, England etc. gespielt wird. Er kennt die Tricks der Ronaldos und Messis. Man vergleiche dies mit den Berichten der deutschen Sportpresse über die sogenannten deutschen Ur-Länderspiele gegen eine englische Auswahl 1899. Da berichtet eine Zeitung mit Erstaunen so banale Dinge wie: „Bei uns glaubt man, seine Aufgabe damit gelöst zu haben, wenn man seinen Ball abgespielt hat, während der Engländer sich dann schon wieder günstig zu platzieren sucht, um den Ball erneut zu empfangen.“ Oder dass die Engländer den Ball nicht einfach mit der „Pieke“ nach vorne dreschen, sondern mit der Innenseite des Fußes annehmen und passen. Um zu wissen, wie die spielen, musstest du sie nach Deutschland holen oder auf die Insel fahren. Was logistisch nicht so einfach war wie heute. Und heute musst du sie auch nicht holen oder zu ihnen hinfahren. Du erfährst auch so vieles. Zu meiner Jugend in den 1970ern waren Länderspiele und Europapokalbegegnungen die einzige Möglichkeit, um etwas über die Spiele der anderen zu erfahren. Wenn du im Grenzgebiet zu den Niederlanden aufgewachsen bist, hattest du den Vorteil, dass du deren Fernsehen empfangen und dir so auch Ernst Happels Feyenoord und das große Ajax von Rinus Michels und Johan Cruyff anschauen konntest.
Hyballa: Wenn dich heute ein Spieler fragt: Trainer, in welcher Grundordnung wir spielen, dann sagst du: 4-4 -2. Dann kommt als Antwort: Nee, Trainer, ich meine: gegen den Ball. Au, sage ich, gegen den Ball. Dann machen wir 4-1-4-1 mit Bogenverlauf und versuchen den Innenverteidiger abzuklemmen, weil der das Pressing aufreißt. So wurde auch ich nicht als Trainer ausgebildet. Aber ich bin eigentlich stolz darauf, dass ich sehr empathisch ausgebildet wurde. Bei Erich Rutemöller haben wir in der Ausbildung zum Fußballlehrer mitbekommen, was das Spiel wirklich bedeutet. Natürlich auch viele taktische Sachen. (Hyballa baute 2005 den Fußballlehrer und war damals mit 28 der Jüngste in Deutschland.)
Was noch für die Trainerausbildung ganz, ganz wichtig ist: Junge Trainer haben heute die riesige Chance, Bundesligatrainer zu werden. Da denke ich manchmal: Als wir junge Trainer waren, konnten wir noch nicht viel ausprobieren. Es war eine riesige Sensation, als Thomas Tuchel den Cheftrainerjob in Mainz bekommen hat. Dann kam ich mit Aachen relativ schnell hinterher. Aber: Jugendtrainer wollen natürlich auch Resultate. Als U17- oder U19-Trainer deutscher, westdeutscher oder norddeutscher Meister zu werden – da gucken die Trainer selber auch drauf. Das heißt: Du spielst Fußball aufs blanke Ergebnis hin. Als wir vor zehn Jahren in den NLZs anfingen, ging es auch darum, Spektakel zu machen. Also: ausprobieren, auch mit Risiko. Wir waren eigentlich die ersten Pressingtrainer. Immer offensiv, immer vorne drauf. Heute bereitest du schon eine C- und B-Jugendmannschaft vor wie eine Erwachsenenmannschaft. Und warum? Weil der Jugendtrainer auch Erfolg haben will – in der Form von Spielergebnissen. Und warum? Weil der junge Trainer, auch wenn er kein großer Profi war, die große Chance hat, Bundesligatrainer zu werden.
Die Jugendtrainer beschäftigen sich heute unheimlich viel mit der Mannschaft, die arbeiten wirklich wie die Schweine – aber es geht dabei auch um einen selber.
DSM: Das heißt, die Mannschaft wird zu früh auf Erfolg getrimmt. Auf Kosten der individuellen Entwicklung. Der Trainer wird nicht daran gemessen, wie viele Spieler er auf ein hohes Niveau gehoben hat, sondern am Gesamtabschneiden der Mannschaft. Wenn unterm Strich die Durchschnittsnote 2,5 steht, ist das gut – auch wenn niemand besser als 2,5 war. Wenn unterm Strich 3,0 steht, aber drei Spieler konnten auf ein 1,0-Niveau entwickelt werden, wird das nicht honoriert.
Hyballa: Ja. Du spielst immer mit der besten Elf, auch international. Auch wenn es sich eigentlich anbietet, mit der B-Elf zu spielen. Es geht doch um Ausbildung! Warum machst du das? Weil auch du Erfolg haben willst. Die B- und A-Jugendmannschaften leben bereits das Leben einer Erwachsenenmannschaft. Aber das eigentliche Fußballleben beginnt mit dem Eintritt in den Seniorenbereich. Und was den Trainer anbelangt: Es geht – wie gesagt – um einen selber.
DSM: Was für die Ausbildung nicht gut ist…
Hyballa: Auch die Jugendkoordinatoren stehen unter einem enormen Druck. Eine gute Jugendarbeit ist auch Titelarbeit. Das fängt ja schon im kleinen Dorfverein an. Da wird ja auch geguckt, ob die E-Jugend das Pfingstturnier gewonnen hat. Dann muss der Trainer ein guter sein. Die D-Jugend ist Letzter geworden beim Osterturnier, aber vielleicht können vier Spieler aus dem Team super Eins-gegen-eins dribbeln – hilft nichts, schlechter Trainer. So wird doch kategorisiert. Es gilt nur schwarz und weiß. Schon in der U19-Bundesliga fliegen heute die Trainer bei schlechten Ergebnissen raus.
DSM: Aber stehen denn bestimmte Klubs, z.B. die Klubs aus der 1., 2. und 3. Liga, nicht objektiv unter dem Druck, dass ihre U19 in der Bundesliga spielen muss?
Hyballa: Ja, aber warum sagt man so etwas?
DSM: Ich gebe dir Recht, ich sehe das auch nicht so. Vielleicht ist für manche Spieler eine Liga tiefer sogar besser für ihre Entwicklung als die unter einem enormen Druck agierende Junioren-Bundesliga mit der von dir beschriebenen Pattsituation. Aber das fängt ja schon – wie von dir angesprochen – in der E-Jugend des Dorfvereins an. Auch beim einzelnen Spieler, wenn bestimmte Jungs grenzenlos hochgejazzt werden, auch von ihren Eltern, wenn ihnen eine große Zukunft prognostiziert wird. Dabei handelt es sich häufig nur um die Zeitlupe einer Momentaufnahme. Und dann wundert man sich, wenn mit dem Spieler in der B-Jugend nicht mehr viel los ist und ihn der eine oder andere Kollege, der noch in der E-Jugend deutlich schwächer war, überholt. Ich kann diesen F-, E- und D-Jugend-Eltern nur sagen: Freut euch, aber freut euch still. Und macht euch nicht zu Geiseln von Hoffnungen, die eventuell enttäuscht werden. Entscheidend ist, wo der Junge in einigen Jahren steht.
Hyballa: Ja, aber es ist natürlich so, dass wir in der Öffentlichkeit über diese Götzes und Gündogans reden.
DSM: Wobei interessant ist, dass Gündogan einen „Umweg“ gehen musste. 1998/99 bei Schalke, dann bis 2005 beim SV Gelsenkirchen-Hessler und SSV Buer. Zur B-Jugend dann zum VfL Bochum – aber eben „nur“ Bochum. Nicht Schalke oder der BVB.
Hyballa: Noch einmal zur Junioren-Bundesliga. Da kannst du natürlich auch sagen: Ein Schritt weiter beginnt der Profibereich. Wenn du im neunten Semester Medizin studierst, ist es nicht mehr so weit weg, dass du selbst operierst. Dann muss der Druck irgendwann mal höher werden. Aber ich sage ganz ehrlich: Der Druck in der U19-Bundesliga ist brutal. Das war zu Anfang der NLZs ein bisschen anders. Trotzdem: Irgendetwas müssen wir gut gemacht haben. Denn der deutsche Fußball ist der beste der Welt. Ende. Deutsche Trainer sind gefragt. Ich bekomme zig Einladungen aus allen möglichen Ländern der Welt. Die Fortbildungen kann ich häufig nicht annehmen, weil ich jetzt wieder eine erste Mannschaft im Profiberich trainiere. Aber wenn ich heute sage, dass ich ein Trainer aus der „deutschen Fußballschule“ bin – dann klatschen alle in die Hände. Vor zehn Jahren hätte man gesagt: „Deutsche Fußballschule?“ Gibt es doch gar nicht! „Niederländische Fußballschule“, Clairefontaine, La Masia – das hatte Klang. Aber doch nicht „Deutsche Fußballschule“… Und heute sagst du: Die „Knappenschmiede“ mit Norbert Elgert. Das hat international Klang. Darauf können wir stolz sein. Bei allem Kritischen, was ich gesagt habe.
Hansi Flick: Das neue sportliche Leitbild des DFB. Unser Weg – Erfolg entwickeln. In: fussballtraining. Die Trainerzeitschrift des Deutschen Fußball-Bundes. Ausgabe 8/2016.
Peter Hyballa / Hans-Dieter te Pol: Modernes Dribbling. Spiele entscheiden durch individuelle Stärke, Aachen 2016.
Dies.: Modernes Passspiel International. Konzepte, Perspektiven, Ideen und Visionen, Aachen 2015.
Dietrich Schulze-Marmeling: Der König und sein Spiel. Johan Cruyff und der Weltfußball, Göttingen 2016 (2. Aktualisierte Auflage).
Ders.: George Best. Der ungezähmte Fußballer, Göttingen 2016 (2. Auflage).