Vor dem Finale stellt sich Dietrich Schulze-Marmeling die Fragen: Wer ist nun nationalistischer? Die Italiener oder die Engländer? Welche Mannschaft soll schon allein aus politischen Gründen nicht gewinnen?
Die Sympathien scheinen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis mehr bei den Italienern zu liegen. Von einigen Menschen höre ich: „Wir sind für die Italiener, weil sie den besseren Fußball spielen und die englischen Fans die „englische Fairness“ vermissen lassen. Beim „besseren Fußball“ gehe ich mit.
„Unfaire“ Engländer
Aber: Auch deutsche Fans haben schon bei den Nationalhymnen anderer Mannschaften gepfiffen. Nun gut, wir beklagen ja lediglich den Verlust von „englischer Fairness“. Was so viel heißt wie „Von Engländern müssen wir ein besseres Verhalten erwarten als von uns Deutschen! Denn Fairness gehört zur englischen DNA!“ Immerhin ist der neue Hit der englischen Fans Neil Diamonds Schnulze „Sweet Caroline“. Was doch friedlicher ist als dieses „Rule Britannia, Britannia rule the waves“. Und auch besser als stumpfe „Sieg! Sieg!“-Stakkatos.
Als Verlust „englischer Fairness“ wird auch der fragwürdige Elfmeter ausgelegt, den Harry Kane im Nachschuss zum Siegtor verwandelte. Allerdings hat Deutschland gleich zwei WM-Titel fragwürdigen Elfern zu verdanken. 1974 führte eine Hölzenbein-Schwalbe zum Ausgleich gegen bessere Niederländer. 1990 liegt schon etwas näher am EM-Halbfinale England gegen Dänemark. Völler fiel, als er fallen musste. Aber der deutsche Sieg war verdient.
Die Abneigung gegenüber den Engländern hat vermutlich auch mit dem Brexit und Boris Johnson zu tun. Aber in dieser Mannschaft, die zu gut 50 Prozent aus Spielern besteht, deren Vorfahren aus ehemaligen britischen Kolonien stammen, ist kein Brexit und kein Boris Johnson. Auch wenn Johnson und der rechte, nationalistische Boulevard versuchen werden, einen englischen Sieg politisch auszuschlachten.
David Conn schreibt im Guardian, „diese Gruppe von Spielern, die weiterhin auf die Knie geht und ihren enormen Einfluss nutzt, um Rassismus und soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen“, habe sich Johnsons Drehbuch verweigert. Ihr Trainer, Gareth Southgate, „nachdenklich, echt detailverliebt“, sei „ein würdiger Anführer“, ein „Kontrast zu Johnsons Bombast und Rücksichtslosigkeit im Umgang mit der Wahrheit“. Southgate habe vorausgedacht und sein eigenes Drehbuch geschrieben, um sicherzugehen, dass er und sein Team nicht politisch instrumentalisiert würden. Es gäbe Berichte, nach denen Southgates Drehbuch Johnsons Strategen aus der Bahn geworfen habe. Southgate habe es ihnen unmöglich gemacht, die Fortschritte des Teams während des Turniers als Treibstoff für ihre spalterische Agenda zu benutzen.
2018 hatte Southgate den Brexit kritisiert – insbesondere die rassistischen Töne der „Leave“-Kampagne. Die Three Lions bezogen nicht nur gegen Rassismus und Armut Stellung, sondern auch gegen Homophobie. Harry Kane trug als Kapitän die Regenbogenbinde.
Die Italiener und ihre Hymne
Nun zu den Italienern. Die Inbrunst, mit der die Spieler eine Hymne singen, in der sie für Italien sterben, irritiert etwas. Ist diese Hymne nicht faschistisch? Zumal sich eine rechtsnationale bis rechtsextreme Partei in Italien nach ihr benannt hat, die Fratelli d’Italia (FdI), die von der 44-jährigen Giorgia Meloni geführt wird. Bei den Wahlen vom März 2018 erreichte die Partei nur 4,3 Prozent der Stimmen. „Nach aktuellen Umfragen liegt der WählerInnenanteil nun bei zwanzig Prozent und die FdI damit fast gleichauf mit dem Partito Democratico (PD) und knapp vor Matteo Salvinis rechtspopulistischer Lega. Zusammen mit Silvio Berlusconis Forza Italia käme der Rechtsblock auf die Hälfte der Stimmen“, schreibt Italien-Experte Jens Renner in der Schweizer WOZ.
Im Gespräch sagt Renner zwar, dass die Spieler jetzt nicht automatisch Fans der Faschisten seien, aber völlig unberücksichtigt könne man auch nicht lassen, dass eine Partei unter dem Namen der Hymne firmiere. Rechtspopulisten hätten sich immer um eine Nähe zur Squadra Azzurra bemüht bzw. eine politische Instrumentalisierung des Fußballs betrieben. Man denke nur an Silvio Berlusconis Partei Forza Italia, bei der ein Schlachtruf der Fans der Nationalmannschaft Pate stand. Feuerte diese die Fußballer an, skandierte sie automatisch den Namen der Partei.
Allerdings sei die Sache mit der Hymne komplizierter: Die Hymne Fratelli d’Italia wurde von Goffredo Mameli im Herbst 1847 geschrieben und am 10. Dezember 1847 in Genua vor ca. 30.000 Menschen uraufgeführt. Es war die Hymne der Freiheitskämpfer des Risorgimento. 1932 wurde die offizielle Aufführung von Fratelli d’Italia von den Faschisten verboten. So wurde die Hymne zu einem Symbol der Opposition und des Widerstands gegen den Faschismus.
Ich habe über die Hymne auch mit einem guten italienischen Freund gesprochen, der sich zur italienischen Linken zählt. Er verwies darauf, dass andere Hymnen aus dieser Zeit nicht weniger nationalistisch und kriegerisch seien. Und überhaupt: die Marseillaise … Dass sich Rechte ihres Titels bemächtigen, sei nicht zu verhindern.
Die Squadra Azzurra und die „Nicht-Italiener“
Trainer Roberto Mancini äußerte noch 2015 die Auffassung: „Die italienische Nationalmannschaft muss italienisch sein. Ich denke, dass ein italienischer Spieler verdient, in der Nationalelf zu spielen, während derjenige, der nicht in Italien geboren ist, auch wenn er italienische Verwandte hat, es nicht verdient.“ Selbst die Faschisten sahen das lockerer – jedenfalls zunächst. Dass Italien 1934 Weltmeister wurde, hatte die Squadra Azzurra nicht zuletzt argentinischer Hilfe und einem klaren Verstoß gegen das Turnier-Reglement zu verdanken. 1926 war in Italien der Profifußball legalisiert worden. Gleichzeitig wurde die Verpflichtung ausländischer Spieler verboten. Österreichische und ungarische Legionäre mussten nun das Land verlassen.
Kompensiert wurde der Verlust durch eine erste Welle interkontinentaler Spielertransfers. Die italienischen Top-Klubs schauten sich in Südamerika nach Nachfahren italienischer Emigranten um. Denn diese konnten die italienische Staatsbürgerschaft beanspruchen, die ihnen von den faschistischen Behörden auch bereitwillig gewährt wurde. Zumal wenn es sich um Fußballer handelte. Die Legionäre wurden als repatriierte Personen betrachtet. Auch für Nationalcoach Vittorio Pozzo blieben die „Söhne italienischer Eltern, die zufällig nach Südamerika ausgewandert sind, Italiener.“
Der erste der sogenannten Oriundi im italienischen Fußball war der Argentinier Julio Libonatti, dessen Familie aus Genua stammte und bereits 1925 zum AC Turin geholt wurde. Nach dem olympischen Fußballturnier 1928 mit dem Finale Uruguay gegen Argentinien bediente sich auch Lokalrivale Juventus in Argentinien. 1929 lockte FIAT- und Juve-Boss Umberto Agnelli Raimundo Orsi nach Turin. 1931 nahm „Juve“ auch noch Orsis Landsmann Luis Monti unter seine Fittiche. AS Rom verpflichtete 1933 mit Enrique Guaita, Alejandro Scopelli und Andrea Stagnaro gleich ein komplettes Trio.
Von den drei „Ex-Argentiniern“, die Italien zum WM-Titel verhalfen, war aber nur Raimundo Orsi für das Turnier spielberechtigt. Denn laut WM-Reglement musste ein Spieler, der die Nationalität wechselte, mindestens drei Jahre in seinem neuen Land leben und arbeiten, bevor er für dieses auflaufen durfte. Das war bei Monti und Guaita nicht der Fall. Letzterer hatte noch am 5. Februar 1933 für Argentinien gespielt.
Die FIFA ignorierte den offensichtlichen Verstoß. Zu eng war die Verflechtung zwischen dem FIFA-Organisationskomitee und den Mussolini-Faschisten. Außerdem versprach der Gastgeber, für den Fall eines finanziellen Debakels alle Ausstände zu übernehmen.
In der zweiten Hälfte der 1930er nahm die Zahl der Oriundi deutlich ab. Gründe waren die Legalisierung des Profifußballs in Argentinien und das politische Klima in Italien. Die Oriundi gerieten zusehends in Misskredit, da man ihren Patriotismus und ihr „Italienertum“ anzweifelte. Im Sommer 1935 erhielt Guiata die Einberufung zum Militär und befürchtete einen Kampfeinsatz im italienisch-äthiopischen Krieg und flüchtete zunächst mit den zwei anderen Roma-Oriundi nach Frankreich und kehrte von dort nach Argentinien zurück. Dort streifte er 1937 noch einmal das Trikot der Albiceleste über. Auch Raimundo Orsi entzog sich dem Militärdienst und flüchtete nach Südamerika, wo er noch für Peñarol Montevideo und Flamengo Rio de Janeiro spielte. Die Flucht der vier Spieler geriet zum nationalen Skandal, das faschistische Regime beschimpfte sie als Feiglinge, Diebe und Schmuggler. Als Italien 1938 erneut die WM gewann, war mit dem Uruguayer Andreolo nur noch ein Südamerikaner dabei.
Wo steht die Squadra Azzurra politisch?
Zurück zu Roberto Mancini: Der opferte seine fragwürdige Ansicht dem Erfolg. Drei Spieler seines Kaders sind brasilianischer Herkunft. Einer von ihnen ist der famose Jorginho, der „die ganze Mannschaft am Ticken hält; und gegen die Spanier den letzten Elfmeter verwandelte. Mein italienischer Freund hält Mancini zugute, dass er – anders als seine Vorgänger – Spieler aus dem Süden berücksichtige.
Die englische Nationalelf war die erste in Europa, die den Kniefall-Protest gegen Rassismus praktizierte. Ein Teil ihrer Fans pfiff sie dafür aus. Boris Johnson weigerte sich, die rassistischen Fans zu kritisieren. Nein, dieser Mann hat mit diesem Team nun wirklich nichts zu tun. Bei den Italienern machten nur einige Spieler mit. Zumindest Teile des Kaders beziehen klar gegen Rassismus Stellung. Allen voran Kapitän Giorgio Chiellini.
Letzte Frage an meinen italienischen Freund: „Wo dürfen wir nun die Mannschaft politisch einordnen?“ Er verwies zunächst darauf, dass sich in dieser eine – für italienische Verhältnisse – hohe Zahl von akademisch geprägten Spielern tummeln würde. Chiellini beispielsweise erwarb 2017 einen Master in BWL (Titel der Arbeit übrigens: „The Business Model of Juventus Football Club in an International Context“). Leonardo Spinazzola habe ein Studium der Politikwissenschaft und der internationalen Beziehungen absolviert. Federico Chiesa habe zunächst die internationale Schule von Florenz besucht und anschließend ein internationales Gymnasium, wo der Unterricht ausschließlich in Englisch und mit Klassenkameraden aus aller Welt stattfand. Matteo Pessina spräche fließend Latein und studiere Wirtschaftswissenschaften usw.
Okay, aber WO steht sie nun politisch? Antwort: „Rechte wie Buffon gibt es in dieser Mannschaft nicht. Die meisten Spieler sind eher Mitte-Links.“ Was das jetzt fürs Finale heißt? Das weiß ich doch auch nicht! Fragt doch Olaf Thon oder Lothar Matthäus! Oder, noch besser, Andy Möller: England oder Italien? Hauptsache Spanien ...