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Fußball

 

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In der Saison 2003/04 gewann eine von mir trainierte U17-Mannschaft den Münsteraner Kreispokal. Wir gewannen das Finale mit 2:1. Unser Torhüter parierte einen Strafstoß, und beim Siegtor – ein Schuss aus gut 20 Metern Entfernung – sah sein Kollege im anderen Tor nicht gut aus. Der Trainer des Gegners gratulierte mir, aber ich hatte ein schlechtes Gewissen. Ich: „Glücklicher Sieg, nicht mehr und nicht weniger.“ Er: „Nein, euer Sieg war absolut verdient!“ Das war nett, änderte aber zunächst nichts an meiner Meinung.

Drei Wochen später schaute ich mir das gesamte Spiel noch einmal auf Video an. Was hatte ich am Tag des Finals gesehen? Unser Sieg war tatsächlich verdient, er hätte auch höher ausfallen können.

Warum ich das hier erzähle? Weil ich spätestens seit diesem Spiel weiß, wie sehr man sich bei seinem Urteil von kleinen Dingen beeinflussen lässt. Und dass man sich manchmal ein Spiel zweimal, vielleicht sogar dreimal anschauen muss, um zu einem wirklich fundierten Urteil zu gelangen.
 

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Bundesligatabelle 2019/20
Die Bundesligatabelle der Saison 2019/20 bis zur langen Corona-Unterbrechung
(Quelle: Screenshot von bundesliga.de)


Jürgen Klopps BVB

In den Spielzeiten 2010/11 und 2011/12 wurde Jürgen Klopps BVB Meister. 2011/12 gewannen die Schwarz-Gelben auch noch den DFB-Pokal, 2012/13 erreichten sie das Finale der Champions League. Nach dem Sommer 2013 ließ der Rausch in Dortmund allmählich nach. Die nun von Pep Guardiola trainierten Bayern waren einfach zu dominant. In der Saison 2014/15 herrschte dann Katerstimmung. Nach Mario Götze verlor der BVB auch seinen Torgaranten Robert Lewandowski an den Konkurrenten aus München. Zur Halbzeit der Serie war die Borussia Vorletzter, von den 17 Spielen hatte man nur vier gewonnen. Fast noch erschreckender: Das Team hatte nur 18 Tore erzielt. Vier Tage nach dem 1:3 bei Borussia Mönchengladbach (28. Spieltag) verkündete Klopp seinen Rücktritt zum Ende der Saison.

Das schwarz-gelbe Ensemble präsentierte sich in Klopps letzter Saison zu häufig ausgepowert und ideenlos. Hatten Klopps atemloser und temporeicher Fußball und das unerbittliche Spiel gegen den Ball zu viel Kraft gekostet? War der Verlauf der Saison 2014/15 der Preis für den strapaziösen „Vollgas-Fußball“ der letzten Jahre? War Klopp nicht dazu in der Lage, die Mannschaft und ihr Spiel weiterzuentwickeln – hin zu einem „Vollgas-Fußball 2.0“?

Mit der Zeit hatten die Gegner des BVB damit begonnen, sich tiefer zu positionieren, wodurch sie dessen Umschaltfußball bremsten und den schwarz-gelben Ballbesitz in die Horizontale lenkten. Klopps charakteristisches „Gegenpressing“ wurde durch Bälle hinter die erste Pressinglinie ausgehebelt. Es schien so, als wüssten der Trainer und seine Mannschaft keine Antwort darauf. Geriet der BVB in Rückstand, verlor man in der Regel auch das Spiel.

Andere Dinge waren aber von größerer Bedeutung für den unbefriedigenden Saisonverlauf: eine zu große Zahl verletzter Spieler, vor allem aber Pech im Abschluss. Wenn es noch eines Beweises dafür bedurfte, dass Fußball auch ein Glücksspiel ist, bei dem es passieren kann, dass das bessere Team als Verlierer vom Platz geht – Borussias Saison 2014/15 lieferte ihn.
 

Warum Liverpool Klopp haben wollte

Als die Fenway Sports Group Jürgen Klopp als Wunschkandidaten für den Liverpool-Job identifizierte, ließ sie sich nicht von dessen letzter BVB-Saison irritieren. Die amerikanischen Besitzer hatten beim FC Liverpool eine Abteilung Analyse aufgebaut, nach dem Vorbild ihres Baseball-Teams „Red Sox“. Geleitet wird diese von Ian Graham, schon seit Kindheit ein Fan der „Reds“ und durch die großen Erfolge des Klubs in den 1970ern und 1980ern geprägt. Nach seiner Promotion als Physiker hatte Graham eine auf zwei Jahre befristete Stelle an der University of Cambridge. Aber der Waliser verspürte keine Lust auf eine wissenschaftliche Karriere, er wechselte in den Fußball. Von 2008 bis 2012 beriet er Tottenham.

Graham und seine Abteilung gelangten zu der Erkenntnis, dass Jürgen Klopp ein Trainer ist, der mit seinen Kadern ständig die Erwartungen übertrifft. Klopp würde Spieler und Mannschaften besser machen. Und seine letzte Saison in Dortmund? Gemessen an Torchancen hätte sein BVB eigentlich Zweiter werden müssen und wäre in Europa das viertbeste Team gewesen.

Drei Wochen nach seinem Amtsantritt bei den „Reds“ präsentierte Graham Klopp eine Analyse der Begegnungen des BVB gegen Mainz 05 und Hannover 96. Gegen die Mainzer hatte der BVB 0:2 verloren, hätte das Stadion aber als Sieger verlassen müssen. Tatsächlich waren die Borussen ihrem Gegner in allen Bereichen klar überlegen gewesen – abgesehen von der Kategorie „Erzielte Tore“. Der BVB kontrollierte die Begegnung über zwei Drittel der Spielzeit. Er stieß 85-mal ins obere Drittel des Spielfelds vor, 36-mal in den Strafraum der Mainzer. Klopps Elf verschoss einen Strafstoß und traf einmal ins eigene Tor.

Fast noch frustrierender gestaltete sich das Spiel gegen Hannover 96. Klopps Team schoss 18-mal auf deren Tor, der Gegner kam nur auf sieben Torschüsse. 55-mal landete der Ball im Strafraum der Niedersachsen, nur 13-mal in dem der Westfalen. Aber Hannover gewann das Spiel mit 1:0. Klopp, so Grahams Resümee, habe einfach eines der unglücklichsten Teams der jüngeren Fußballgeschichte trainiert.

Patrick Bauer, in der DFB-Akademie der Mann der Daten: „Wenn man sich ein einzelnes Spiel ansieht, ist jedem klar, dass Glück und Pech eine Rolle spielen. Deshalb haben sich im Sprachgebrauch die Ausdrücke ‚verdienter Sieg‘ oder ‚unverdienter Sieg‘ etabliert. Im Fußball endet nur jeder 100. Angriff mit einem Tor. Statistisch gesehen ist daher eine Saison mit 34 Spielen und im Schnitt 54 Toren pro Team zu wenig, um den Faktor von Glück und Pech zu egalisieren. Je mehr Spiele, desto eher steht eine Mannschaft auch da in der Tabelle, wo sie hingehört.“ Deshalb ginge die Floskel „Die Tabelle lügt nicht“ zwar in die richtige Richtung, allerdings sei es eher unwahrscheinlich, dass alle Mannschaften nach 34 Spieltagen exakt auf dem Tabellenplatz stehen, der ihrer Leistung – im Vergleich zu der der anderen – entspricht. Bauer: „Grahams Rückschluss war, dass der Trainer keinen oder nur bedingt Einfluss auf diesen Umstand hat.“ Die datenbasierte, objektivierte Bewertung der letzten Klopp-Saison in Dortmund „könnte die letzten Zweifel bei Liverpool an einer Verpflichtung von Klopp ausgemerzt haben.“ So sieht es auch Klopp. Ian Graham und dessen Abteilung Analyse seien der Grund, „warum ich hier bin“.

Im Gespräch mit dem Taktikexperten Christoph Biermann (11 Freunde) zitierte Matthew Benham, Besitzer des dänischen „Moneyball“-Klubs FC Midtjylland, fast wörtlich den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann: „Menschen ertragen es kaum, wenn sie die Dinge nicht kontrollieren können, deshalb konstruieren sie Geschichten.“ Der Psychologe erklärt unter anderm, wie das Gehirn zu voreiligen Schlussfolgerungen aufgrund unvollständiger oder falscher Informationen gelangt. Kahnemanns Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ ist Pflichtlektüre in Benhams Unternehmen wie beim Fußballklub. Biermann: „Es geht in diesem Buch um all die Streiche, die wir uns spielen, wenn wir Entscheidungen treffen. Indem wir etwa Geschichten konstruieren, um vermeintlich sinnvolle Aussagen zu machen, die in Wirklichkeit aber höchst irrational sind. Weil wir nicht akzeptieren wollen, dass der BVB einfach nur sehr viel Pech gehabt haben könnte.“
 

Phrasen dreschen

Ist „Die Tabelle lügt nicht!“ also nur eine von vielen Phrasen, die im Fußball gedroschen werden? Ganz so ist es sicherlich nicht. Aber war der 1. FC Köln in der Saison 2016/17 tatsächlich das fünftbeste Team der Liga, mit zwölf Punkten mehr als der Sechzehnte VfL Wolfsburg und nur zwölf Siegen aus 34 Spielen?

In der Saison 2015/16 war der FC Bayern vielleicht das beste Team in Europa. Im Champions-League-Halbfinale gegen Atlético Madrid waren die Bayern über ca. 70 Prozent der 180 Minuten besser und spielbestimmend. Atlético kam trotzdem weiter. In Madrid gewann das Team von Coach Diego Simeone mit 1:0, weil David Alaba nur die Unterkante der Latte traf. In München behielten die Bayern mit 2:1 die Oberhand. In der Allianz Arena vergab Thomas Müller in der 34. Minute einen Strafstoß – drei Minuten nachdem die Bayern mit 1:0 in Führung gegangen waren. Bei einer 2:0-Führung für die Hausherren wäre es für Simeones defensiv ausgerichtetes Team extrem schwierig geworden. In der 53. Minute kam Atlético zum zwischenzeitlichen Ausgleich – nach einem Fehler von Boateng. Dass Alaba in Madrid nur die Unterkante der Latte traf, konnte man Guardiola ebenso wenig ankreiden wie Müllers Fehlschuss vom Elfmeterpunkt und Boatengs Fehlpass im Rückspiel. Trotzdem hieß es anschließend, Guardiola sei bei den Bayern letztlich gescheitert. Tatsächlich war es ihm gelungen, sogar Spieler wie Philipp Lahm noch besser zu machen. Der Kader, mit dem die Bayern in die Spielzeit gingen, war keineswegs dergestalt, dass man von einem ganz heißen Anwärter auf Europas Krone sprechen konnte.

Bei der WM 2018 spielte Deutschland über weite Strecken nicht gut, vieles stimmte nicht, nicht nur auf dem Spielfeld. Unklar ist, wie entscheidend der nun kritisierte „Ballbesitzfußball“ tatsächlich für das Ausscheiden war. Die DFB-Elf schoss so häufig auf des Gegners Tor wie kein anderes Team in der Vorrunde. Marco van Basten, Chef der Abteilung für Technische Entwicklung bei der FIFA, kam zu dem Ergebnis: „Deutschland hat besser gespielt als viele andere Teams. Aber wenn du die Möglichkeit hast, musst du sie auch nutzen. Sie hatten kein Glück. Das war der Gegensatz zu 2014: Da hatten sie weniger Chancen, haben aber mehr Tore erzielt. Das macht den Unterschied aus.“

Eine der dümmsten Phrasen lautet: Fußball sei nun einmal ein Ergebnissport. Als ob der 100-Meter-Lauf oder eine Partie Schach dies nicht seien. Der Unterschied zwischen dem Fußball und diesen beiden Disziplinen: Glück und Pech spielen im Fußball eine deutlich größere Rolle. Manchmal mit fatalen Folgen für die Trainer, die ihren Job verlieren auf Grund von miserabler Chancenauswertung, eines Innenverteidiger-Blackouts oder eines verschossenen Strafstoßes.

Vor einigen Monaten forderte Lucien Favre mehr Sachlichkeit im öffentlichen Umgang mit Trainern: „Mir wird zu viel schwarz und weiß gemalt, es geht zuerst meistens auf die Trainer, aber ich prophezeie: Sie werden eines Tages anfangen, sich dagegen zu wehren.“ Fußball-Journalismus besteht manchmal nur aus Spielbericht, Transfergerüchten und der Forderung nach rollenden Köpfen.

Vielleicht ist das Problem aber ein viel grundsätzlicheres. Die Welten gehen immer mehr auseinander. Trainer und ihre Stäbe haben ganz andere Möglichkeiten, ein Spiel zu analysieren als Journalisten, die unmittelbar nach dem Abpfiff ihr Urteil fällen müssen – zum Teil einschließlich der Benotung eines jeden Spielers. Als ob sie dazu in der Lage wären, 90 Minuten lang das gesamte Spielfeld zu scannen! Kein Trainer wird dies von sich behaupten – er schaut sich das Spiel anschließend noch einmal an, analysiert die ihm gelieferten Daten. Erst dann kommt er zu einem abschließenden Urteil. Kein Journalist hat die Zeit dazu, der Bericht vom Samstag kann nicht bis Montag warten. Und kaum ein Journalist ist bereit zuzugeben, dass der Grund, warum eine Mannschaft gewinnt oder verliert, manchmal einfach nur Glück oder Pech heißt.

 

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