Deutschland hat nicht nur eine Trainerdebatte. Deutschland hat ganz viele Trainerdebatten. Trainerdebatten sind für einen Teil des Fußballjournalismusʼ sein tägliches Brot.
Ich ahnte schon, was nach dem 5:2-Sieg des BVB in Berlin kommen würde. Nicht viel anderes, als was nach einer 2:5-Niederlage kommen würde.
So hört und liest man heute wieder, dass Favre kein großer Trainer sei, dass er in Deutschland noch keinen Titel gewonnen habe etc. Gilt im Übrigen aktuell für 17 der 18 Bundesligatrainer – jedenfalls wenn wir Titel in der 2. und 3. Liga nicht berücksichtigen.
Und: Der Schweizer sei ein notorischer Tiefstapler!
Erstens sind mir Tiefstapler lieber als Hochstapler. (Im konkreten Fall heißt dies ja lediglich: Favre hat keine große Fresse. Und hat auch die Konkurrenz im Blick.)
Zweitens hat er völlig Recht, wenn er sagt, dieses Titelgeschwätz (nach acht Spieltagen …) sei ein Thema für die Medien. Aber nicht sein Job. Gehört in der Tat nicht zu seinen Aufgaben.
Drittens höre ich selten, dass wir, die vermeintlichen Experten, am Ende der Saison unsere Behauptungen hinterfragen. „Der BVB kann / muss Meister werden!“ Wenn’s dann nicht eintrifft, hat das natürlich nichts damit zu tun, dass wir nicht ausreichend hingeschaut haben, den BVB-Kader überschätzt haben – und den Bayern-Kader und die Transferpolitik des Klubs unterschätzt haben. Wie ich im vergangenen Jahr. Nein, muss am Trainer gelegen haben!
Vielleicht einfach mal einräumen, dass es zumindest sein könnte, dass der Trainer ein Fachmann und näher dran ist und die Dinge besser beurteilen kann. Es ist immer das gleiche Spiel: Die Messlatte übertrieben hoch legen – macht eine attraktivere Fallhöhe. „Die Mannschaft muss oben mitspielen!“ Der Trainer sagt es nicht, der Verein sagt es nicht. Aber am Ende der Saison wird so getan, als hätten Trainer/Klub es gesagt.
Werder Bremen gehört zu den Teams, die hier besonders stark strapaziert werden. Zuletzt wurde der Klub 2004 Deutscher Meister. Das ist also schon lange her, und das Geschäft hat sich seither erheblich verändert – aber trotzdem muss sich der Verein an seinen großen Jahren messen lassen! Werder holt bei den Bayern einen Punkt. Gewinnt Werder in Wolfsburg, wird anschließend irgendjemand titeln: „Werder – vom Abstiegskandidaten auf die europäische Bühne?“ Man wird an Werders große Europapokalabende erinnern, 5:1 gegen Neapel und Maradona. Und: „Wird Kohfeldt der nächste BVB-Trainer?“ (In der letzten Saison wurde er wochenlang als Favre-Nachfolger gehandelt – am Ende waren einige enttäuscht, dass Werder im Abstiegskampf an ihm festhielt.) Sollte Werder dann auch noch das folgende Heimspiel gewinnen, wird man den Verein auffordern, seine Zurückhaltung aufzugeben. „Schluss mit der falschen Bescheidenheit! Werder muss jetzt erklären, dass Europa das Ziel ist! “
Viertens haben wir ähnlichen Senf auch schon in Sachen Klopp gehört. Nach dem verlorenen CL-Finale 2018: „Klopp kann nicht Finale!“ Nein, das begann schon früher. 2018 war nur die „ultimative Bestätigung“. Klopp überhaupt in Liverpool: „Sehr populär, passt hierhin. ABER … TITEL!!!“ Nach dem engen Ausgang des Premier-League-Meisterschaftsrennen 2018/19: „Hat Klopp verlernt, Meister zu werden? Es ist jetzt schon sieben Jahre her, dass Klopp Meister wurde!“ (Meister wurde keine Laufkundschaft, sondern das steinreiche Manchester City, das nicht von einem Turnlehrer trainiert wurde, sondern von Pep Guardiola. Der aber nicht Champions League kann. Ist ja auch schon acht Jahre her, dass er dort triumphierte – vermutlich aber nur weil er eine Mannschaft hatte, mit der jeder den Wettbewerb gewonnen hätte.) Man bekam den Eindruck, die große Zeit des Jürgen Klopp sei vorbei.
Fünftens sollte man nicht vergessen, WAS Favre seit seiner Ankunft in der Bundesliga erreicht hat. In der Saison 2008/09 wurde er mit Hertha Vierter – eine Platzierung, die der Klub seither nie wieder erreicht hat. Dass man am Ende nicht Meister wurde, hatte ziemlich wenig mit Favre zu tun. In der Saison 2010/11 rettete Favre den Gladbachern die Klasse (er hatte die Mannschaft erst im Februar übernommen) – mit mutigen personellen Entscheidungen (ter Stegen) und einem Fußball, der nichts mit dem zu tun hatte, was gewöhnlich in solchen Situationen gespielt wird. In der folgenden Saison wurden die Gladbacher mit einer nahezu identischen Mannschaft Vierter (beste Platzierung seit 16 Jahren) und qualifizierten sich erstmals für die Playoffs zur Champions League. Was macht einen guten Trainer aus? Dass er ein „Bessermacher“ ist. 2014/15 wurde die Borussia Dritter – beste Platzierung seit 28 Jahren. Dass Gladbach heute zu den besten Teams der Liga zählt, womit man vor zehn Jahren nun wirklich nicht rechnen konnte, hat viel mit Lucien Favre zu tun.
Wenn ich die Bayern-Trainer mal raus lasse (Magath hat ja mal in Richtung Guardiola gesagt, dass mit Bayern jeder Meister werden könnte – vermutlich der Grund, warum Magath 2004 zu den Bayern ging …), dann haben seit Favres Ankunft in der Bundesliga exakt zwei Trainer die Meisterschaft gewonnen: Felix Magath mit dem VfL Wolfsburg (ein Titel ohne Nachhaltigkeit) und Jürgen Klopp mit dem BVB.
Favre kann sich damit trösten, dass er nicht die einzige „Pfeife“ in seiner Branche ist. Thomas Tuchel? Hat hier nur einmal den Pokal gewonnen. Französischer Champion mit Paris Saint-Germain kann nun wirklich jeder. Und Champions League? Im Finale gescheitert. Julian Nagelsmann? Diese dritten Plätze mit Hoffenheim und Leipzig sind ja ganz nett – aber auf die Dauer doch zu wenig!
Mir gehen die Trainerdebatten schon seit Jahren auf den Zwirn. Trainer machen Fehler. Und nicht jede Entlassung eines Trainers ist Quatsch. Manchmal ist sie sogar dringend geboten. Aber mit dieser populistischen „Weg mit XYZ“-Industrie, die sogar Toptrainer zu Pfeifen erklärt, kann ich nichts anfangen.
Zum Schluss ein Auszug aus dem Vorwort von „Trainer! Die wichtigsten Männer im Fußball“ (erscheint im Februar 2022).
„Ein erheblicher Teil der Fußballberichterstattung besteht aus der Spekulation über die Zukunft des Trainers. Trainer werden nach drei Siegen in Folge gehyped und nach ebenso vielen Niederlagen in Folge massiv in Frage gestellt. Von Leuten, die über den Job des Trainers wenig wissen. Und in der Regel von einem sicheren Arbeitsplatz aus urteilen.
Als der Spiegel Ewald Lienen mal fragte, wie sich Trainer gegen die Medien wehren können, erzählte er folgende Geschichte: ‚Ich hatte es in Spanien mal mit einem Journalisten zu tun, der sehr aggressiv und respektlos in seinen Bewertungen war. So wie auch heute Trainern oft die Frage gestellt wird, ob sie daran glauben, in der kommenden Woche noch Trainer des Klubs zu sein. Den besagten Journalisten traf ich kurze Zeit später zufällig auf dem Flughafen und habe ihn umgekehrt mal gefragt, was denn in seiner Zeitung los sei, sein Chefredakteur habe mir davon berichtet, dass er darüber nachdenke, ihn auf seinem Posten auszuwechseln. Da wurde der Reporter aschfahl – er konnte sich nicht beruhigen, bis ich ihn darüber aufgeklärt habe, dass ich mir die Geschichte ausgedacht hatte.‘
Arnd Zeigler, Stadionsprecher von Werder Bremen, Moderator und Autor: ‚Es gibt einen guten Vergleich. Musikjournalisten schreiben über neue Alben. Sie können auch beurteilen, ob sie ein Album mögen oder nicht. Und subjektiv auch. Ob es gut ist oder nicht. Sie hätten aber nicht anstelle des Musikers bessere Musik machen können. Und genauso ist es mit den Sportjournalisten. Die können sich vortrefflich nach einem Spiel dazu äußern, was gut war und was nicht. Aber sie sollen sich nicht anmaßen, im Nachhinein so zu tun, als hätten sie besser auf- oder eingestellt .Es geht um diese immer schlimmere Unart, anschließend alles besser zu wissen. Wenn ein Trainer mit einer waghalsigen Taktik ein Spiel überraschend gewinnt, war das ein Geniestreich. Verliert er, dann fallen alle über ihn her und erklären hinterher, warum es gar nicht gutgehen konnte. Das ist albern.‘“