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Am Wochenende des WM-Finales forderte Reinhard Grindel in einem Interview, Özil müsse sich zu Erdogan äußern – zwei Monate nach dem Fotoshooting mit dem Autokraten. Grindel begründete dies mit einem „veränderten Resonanzboden für das Thema Integration“, benutzte somit die rassistische Stimmung im Land als Druckmittel.*

Zur rassistischen Hetze gegen Özil verlor der DFB-Boss kein Wort. (Schon bei den rassistischen Attacken gegen Özil im September 2017 während des WM-Qualifikationsspiels in Prag – aus der deutschen Kurve wurde „Özil abschieben, Ausländer raus!“ skandiert – war die Reaktion des DFB lauwarm ausgefallen. Die Verantwortlichen waren darum bemüht, das Thema herunterzuspielen.)

Es war das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Nationalspieler öffentlich von der Führung seines Verbandes zu einem politischen Statement aufgefordert wurde. Zu einem Statement gegen ein Staatsoberhaupt, dessen Herrschaft die Bundesregierung mit Waffen und Geld stabilisiert. (Im Schatten der Özil-Debatte ließ die Bundesregierung die Sanktionen gegen die Türkei auslaufen …). Grindel wusste genau, dass Özil kein Anti-Erdogan-Statement abgeben würde und könnte. Warum, das ist ein Thema für einen eigenen Beitrag. Hier nur so viel:

  1. Man muss wohl davon ausgehen, dass Özil gewisse Sympathien für Erdogan hegt. Damit steht er in der „deutsch-türkischen“ Gesellschaft nicht alleine. Und je mehr die Mehrheitsgesellschaft von der dritten Generation der „Deutschtürken“ Integrationsleistungen fordert (dass jemand die deutsche Sprache spricht, die deutschen Gesetze befolgt, fleißig arbeitet bzw. Leistungen erbringt und seine Steuern bezahlt, reicht mittlerweile nicht mehr), desto mehr von ihnen werden Erdogan und seine Türkei als Rückversicherung sehen.
  2. Özil (wie auch Gündogan) haben Familie in der Türkei. Wenn das Erdogan-Regime so autokratisch und korrupt ist, wie wir behaupten – und dies ist der Fall –, bedarf es für ein Anti-Erdogan-Statement eines gewissen Mutes und einer gewissen Rücksichtslosigkeit gegenüber der Situation der Familie in der Türkei. Zumal nachdem man sich mit Erdogan bereits wiederholt getroffen hat, wodurch ein Anti-Erdogan-Statement den Charakter eines „Verrats“ erhält. Der Preis eines nachträglichen Anti-Erdogan-Statements wäre extrem hoch gewesen und hätte ihm hierzulande kaum Punkte eingebracht. Man hätte ihn für unglaubwürdig erklärt.

Was den Mut anbelangt: Özils ehemalige Nationalmannschaftskollegen haben derzeit nicht einmal den Mut, diesen einen Satz auszusprechen: „Wir fanden das Foto mit Erdogan falsch, aber wir distanzieren uns aufs Schärfste von den rassistischen Attacken gegen unseren ehemaligen Mitspieler.“ Auch hier gilt wohl: Der Spieler mit Migrationshintergrund muss mehr leisten.

Opfer DFB

Einen Tag nach Özils Rücktritt veröffentlichte das DFB-Präsidium eine Erklärung, in der man den Rassismus-Vorwurf des Spielers „in aller Deutlichkeit“ zurückwies – „mit Blick auf seine Repräsentanten, Mitarbeiter, die Vereine, die Leistungen der Millionen Ehrenamtlichen“. Des Weiteren werden die Verleihung des Integrationspreises und die Kampagne „1:0 für ein Willkommen“ erwähnt, mittels der Zehntausende Flüchtlinge in die Fußballfamilie integriert worden seien. Der DFB habe in den vergangenen 15 Jahren „eine vielschichtige Integrationsarbeit etabliert, die bis in die Amateurvereine wirkt“. Aber Özil hatte nicht „die Mitarbeiter, die Vereine, die Leistungen der Millionen Ehrenamtlichen“ angegriffen, sondern Reinhard Grindel. Ansonsten bedauerte die Erklärung lediglich, „dass Mesut Özil das Gefühl hatte, als Ziel rassistischer Parolen gegen seine Person nicht ausreichend geschützt worden zu sein, wie es bei Jérôme Boateng der Fall war“. Soll heißen: Wenn Mesut dieses Gefühl hatte, ist das zwar bedauerlich, aber sein Problem. Wir sind uns keiner Schuld bewusst. Für das Präsidium war nicht Özil das Opfer, sondern der Verband, der sich durch den Rassismus-Vorwurf diskreditiert sah. Der Rassismus gegen Özil war noch immer kein Thema.

Özil wurde nach seinem Statement ein Mangel an Selbstkritik vorgeworfen. Für das extrem armselige Statement des DFB galt dies nun in einem noch höheren Maße. Und von einer solchen Institution darf und muss man mehr verlangen als von einem einzelnen Spieler. An keiner Stelle ging die Erklärung konkret auf Özils Vorwürfe ein. Dabei wäre es beispielsweise höchst interessant gewesen, was die Verbandsführung zu dem absolut berechtigten Vorwurf, der DFB würde mit zweierlei Maß messen, zu sagen hat. Stattdessen wurden nun Özils Berater ins Blickfeld gerückt. Ein Spiel, das viele Medien mitmachten. So hieß es: Die Erklärung sei vornehmlich das Werk der Berater, somit nicht authentisch. Özil sei fremdgesteuert. Dies ersetzte die inhaltliche Auseinandersetzung. Als ob sich Grindel und Co. bei ihren Statements nicht auch beraten ließen, nicht auch ihre Ghostwriter hätten. Ganz zu schweigen von Özils Berufskollegen. Und bevor Interviews mit Spielern in der Zeitung erscheinen, werden sie erst einmal von den Medienabteilungen ihrer Vereine glatt gebürstet.

Des Weiteren wurden Verschwörungstheorien kolportiert. In Wirklichkeit würde es um die türkische Bewerbung für die EM 2024 gehen, bei der die Türkei der einzige Konkurrent Deutschlands ist. Das Foto mit Erdogan und Özils Statement seien Teil einer von langer Hand geplanten Kampagne, deren Ziel die Diskreditierung der deutschen Bewerbung sei. Wenn dem so wäre, dann müssten Grindel und Co. sofort gehen. Denn dann hätten sie sich seit dem Beginn von „Erdogate“ in jeder Minute falsch verhalten und ein unfassbares Maß an Doofheit offenbart. Allerdings: Sollte Özil nun tatsächlich zum Maskottchen der türkischen Bewerbung avancieren, darf sich niemand beschweren. Schon gar nicht diejenigen, die ihn bereits virtuell ausgebürgert haben. Als „Ausgebürgertem“ steht es ihm frei, sich für die Interessen eines anderen Landes zu engagieren.

Zweierlei Maß

In seiner Erklärung machte das Präsidium ferner klar, „dass die Beachtung der im Grundgesetz verankerten Menschenrechte, das Eintreten für Meinungs- und Pressefreiheit sowie Respekt, Toleranz und Fair Play, ein Bekenntnis zu diesen Grundwerten (…) für jede Spielerin und für jeden Spieler erforderlich (sei), die für Deutschland Fußball spielen“. Im Vorfeld der WM 2022 in Katar darf man also den großen Auftritt erwarten, den manche bei der WM in Russland vermissten. Wie der Fall Özil dokumentiert, geht es ja nicht nur um Demokratie und Menschenrechte in unserem Land, sondern auch in anderen Ländern. Also: keine Fotos mit katarischen Regierungsoffiziellen. Die Mannschaft gibt geschlossen ein Statement ab, in dem sie die Verletzung der Menschenrechte und den Mangel an Demokratie in Katar anprangert. Natürlich auch den Antisemitismus des Regimes, das Sportler aus Israel nicht einreisen lässt.

Ehrenspielführer Lothar Matthäus muss sich zu seinen Treffen mit Orban, Putin und Kadyrow erklären. „Das hatte nichts mit Politik zu tun, wir haben nur über Fußball geredet“, reicht da nicht mehr. Mit solchen Worten hatte auch Özil versucht, das Foto mit Erdogan zu entpolitisieren – dies wurde nicht akzeptiert. Franz Beckenbauer wird aus dem DFB ausgeschlossen, da er die Menschenrechtsverletzungen in Katar nicht nur nicht verurteilte – er zog die Berichte der Menschenrechtsorganisationen auch noch ins Lächerliche. Die DFB-Zentrale, das Hermann-Neuberger-Haus in Frankfurt, wird umbenannt (Vorschlag: Walther-Bensemann-Haus), da Ex-Präsident Hermann Neuberger 1978 eine Militärdiktatur guthieß, die – im Sinne einer sauberen WM – Tausende von Menschen verschleppte und ermordete. Mit Wolfgang Niersbach, Präsident des DFB von 2012 bis 2015, wird der Verband ebenfalls ein Hühnchen rupfen müssen: Der war nämlich als Pressesprecher des DFB auch schon mal antisemitisch unterwegs. Als der DFB am 20. April 1994, Hitlers Geburtstag, gegen England spielen wollte, vermutete Niersbach hinter der kritischen Presseberichterstattung in den USA eine jüdische Verschwörung: „80 % der amerikanischen Presse ist in jüdischer Hand“, behauptete Niersbach nassforsch. Der Pressemann untermauerte seine Behauptung von der Macht der Juden mit einem Beispiel aus der „Washington Post“: Diese habe doch zum 50. Jahrestag des Zweiten Weltkriegs eine Serie gebracht, „da haben die Deutschen jeden Tag was um die Ohren bekommen“.

Am 26. Juli gab Reinhard Grindel dann eine persönliche Erklärung ab, in der es hieß: „Das sportliche Abschneiden bei der WM hat vieles infrage gestellt. Natürlich stelle auch ich mir die Frage, was ich in dieser Zeit hätte besser machen können. Ich gebe offen zu, dass mich die persönliche Kritik getroffen hat. Noch mehr tut es mir für meine Kollegen, die vielen Ehrenamtlichen an der Basis und die Mitarbeiter im DFB leid, im Zusammenhang mit Rassismus genannt zu werden. Für den Verband und auch für mich persönlich weise ich dies entschieden zurück.“ Nein, Grindel ist kein Rassist, in diesem Punkt schoss Özils Erklärung über das Ziel hinaus. Aber der weinerliche Ton der Erklärung nervt.

Aber immerhin wird nun anerkannt, dass auch Özil ein Opfer ist: „Ich bedauere es sehr, dass dies (das Foto mit Erdogan) für rassistische Parolen missbraucht wurde. Rückblickend hätte ich als Präsident unmissverständlich sagen sollen, was für mich als Person und für uns alle als Verband selbstverständlich ist: Jegliche Form rassistischer Anfeindungen ist unerträglich, nicht hinnehmbar und nicht tolerierbar. Das galt im Fall Jérôme Boateng, das gilt für Mesut Özil, das gilt auch für alle Spieler an der Basis, die einen Migrationshintergrund haben.“ Es bleiben eine Menge Fragen. Zuvörderst die, warum Grindel die Verurteilung der rassistischen Kampagne gegen Özil nicht während oder wenigstens unmittelbar nach dem Turnier über die Lippen gekommen ist. Wer ist der echte Grindel? Was denkt Grindel in der Tiefe seines politischen Herzens wirklich? Ging es Grindel ein weiteres Mal nur darum, seine eigene Haut zu retten?
 

oezilVon Dietrich Schulze-Marmeling erschien gerade „Der Fall Özil“. Darin analysiert er, wie aus der berechtigten Kritik an einem Foto eine rassistische Kampagne werden konnte und warum die DFB-Elf bei der WM wirklich scheiterte. Hinzu kommen Beiträge von Diethelm Blecking, Robert Claus und Ilkays Bruder Ilker Gündogan zur langen Tradition der multiethnischen Nationalmannschaften in Deutschland, über Fußballer als „politische Botschafter“ wider Willen und die Funktionsweise von Rassismus.


*Wie gefährlich es ist, mit einem „veränderten Resonanzboden für das Thema Integration“ zu hantieren, hat der Sportphilosoph Gunter Gebauer in einem Aufsatz für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ („Vom Sündenbock zum Heiligen?“, FAS v. 29. Juli 2018) aufgezeigt, der mit das Beste ist, was bislang zum Fall Özil publiziert wurde.

Gebauer schreibt, Integration sei ein „bewegliches Konzept“ geworden, das sich „in Abhängigkeit des Wandels der politischen Meinung im Land“ verändern würde. „An jedes öffentliche Auftreten, an jede Verlautbarung von Spielern mit ausländischen Wurzeln werden Messfühler angelegt, die den Grad der Integration messen sollen. Was Integration ist und was sie von den Sportlern mit ausländischen Wurzeln verlangt, verändert sich ständig.“ Das Konzept der Integration erzeuge deshalb keine Klarheit, „sondern ruft Verunsicherung hervor. Es verdeckt die Situation der Abhängigkeit der Nationalspieler mit ausländischen Wurzeln von den sich wandelnden Stimmungen im Aufnahmeland.“

Jürgen Kaube, Herausgeber der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, verweist darauf, dass es eine vollständige Assimilation bzw. Verschmelzung mit der „autochtonen Kultur“ allein schon deshalb nicht geben kann, weil hierfür das einheitliche Gegenüber fehlt. Was stimmt. Auch die Mehrheitsgesellschaft ist nur ein Konglomerat aus Parallelgesellschaften. So verbindet den Autor mit der Parallelgesellschaft, die sich jeden Montag in Dresden versammelt, nur die Sprache. (Sofern die dort Versammelten Hochdeutsch sprechen.) Bei der Befolgung der Gesetze hapert es bereits, da hier fortwährend Volksverhetzung betrieben wird. Auch ist diese Gesellschaft gegenüber dem deutschen Staat nicht loyal, da sie Putin um Hilfe bittet (Hochverrat?). Und von Pressefreiheit, Menschenrechten etc. hält sie auch nichts. Unterm Strich verbindet den Autor mit vielen „Deutschtürken“, welche die Montagsdemonstranten nicht für integrierbar halten und zurück in ihre Heimat schicken wollen, mehr. Integration und Assimilation werden ja häufig gleichgesetzt, aber dass „vollständige Assimilation“ auch keine vollständige Sicherheit vor Rassismus und Vernichtung durch die Mehrheitsgesellschaft bietet, zeigt das Schicksal der assimilierten Juden in Deutschland.

 

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