Ich gehe mal davon aus, dass das hier Geschriebene vielen zu seicht ist. Zu wenig Prügel für den Trainer. Zu wenig Prügel für die (angeblich) satten und lauffaulen Millionäre. Zu wenig Prügel für den DFB, der bei der Gündogan / Erdogan / Özil-Affäre (angeblich) versagt hat. (Die Kritik an der Haltung des DFB wurde irgendwann zum Selbstläufer – niemand musste, geschweige denn konnte, mehr erzählen, was der Verband hätte anders machen sollen.) Und vor allem: Keine Forderung nach rollenden Köpfen. Es wird jetzt also ziemlich langweilig.
Nein, mir ist wirklich nicht nach Prügel und Häme. Es waren einfach zu viele Spieler dabei, die in den letzten Jahren viel geleistet haben: Neuer, Hummels, Khedira, Özil, Kroos, Müller … Und ein Trainer, der mein Interesse an Länderspielen der Nationalmannschaft weckte, auf deren Konsum ich vorher viele Jahre bewusst verzichtet hatte. Der positiven und taktisch anspruchsvollen Fußball spielen ließ. Der den deutschen Fußball revolutionierte. Der uns vom Image befreite, wir seien eine Nation von jämmerlichen Rumpelfüßlern mit einem antiquierten Verständnis vom Spiel.
Häme und Prügel der „Fachleute“
Eigentlich darf man in diesen Tagen nicht viel Presse lesen und nicht viel Fernsehen schauen. (Bitte mehr Sendezeit für Christoph Kramer!) Ein Facebook-Kontakt schrieb mir: „Sportjournalismus verhält sich zu richtigem Journalismus wie Militärmusik zu richtiger Musik“ – manchmal ist das wirklich so, aber ich habe in den letzten Tagen auch viele angenehme Beiträge gelesen, die Hoffnung machen. Turnierpleiten sind immer die große Stunde der Fußballpopulisten und „Volks-Trainer“. Das Özil-Bashing hört nicht auf. Auch gegen Südkorea gab es wieder diesen einen Hauptschuldigen. Mit harten Fakten beschäftigen sich nur wenige.
Zu den rühmlichen Ausnahmen gehört Paul Linke („Frankfurter Rundschau“), der der Nichtversetzung Özils durch die „Fachleute“ von Sport 1 entgegenhält: „Nur mal so: Gegen Südkorea hat dieser nicht versetzungswürdige Fußballer seiner Mannschaft sieben vielversprechende Aktionen ermöglicht. Das ist zuvor noch keinem anderen in Russland gelungen.“ (Ergänzung durch einen Facebook-Kontakt, der etwas näher hinschaut als manche Journalisten: „Statistik auf @Arsenal Inside: Sieben finale Pässe aus direktem Spiel heraus gegen Südkorea beim Mitspieler angekommen. Bis dato Spitzenwert. Dass er aus der Tiefe spielt und eher unspektakulär, weiß auch jeder, der Ahnung hat.“)
Özil hat kein gutes Turnier gespielt, wir haben mit ihm schon bessere Tage erlebt. Aber die Bewertung seiner Leistung hat schon längst nichts mehr mit der Realität zu tun. Gruselig mal wieder die „Alten“, von Uli Stein bis Paul Breitner, der nach dem Ausscheiden tobte: „Das lässt sich der Fan nicht bieten. Die Diskussionen über satte Profis, die es nicht mehr nötig haben, wird jetzt gnadenlos aufgetischt. Das war Altherrenfußball, was wir gesehen haben.“ Wie Effenberg und Basler darf sich auch der Paul darauf verlassen, dass Lanz und Plasberg, die ihn bestimmt demnächst zu ihren Talk-Runden einladen, von Pauls Vergangenheit wenig wissen – wie schon im Falle von Mario Basler.
Nach der WM 1982 schrieb der „Kicker“: „Mit üblen Beschimpfungen und Beleidigungen der eigenen Fans führten einige deutsche Profis erstmals die Kehrseite ihres immer höher bezahlten Jobs vor. Arroganz und Ignoranz, Verachtung und Realitätsverlust.“ Einige Jahre später sprach Uli Hoeneß: „Es war schlecht seit 1982 bei der WM in Spanien, da hat die Mannschaft gezeigt: Man kann saufen und rauchen und trotzdem viel Geld verdienen. Das war der Anfang einer Krise.“ „Kicker“ und Hoeneß meinten vor allem einen Spieler: Paul Breitner. Keine deutsche Nationalmannschaft war daheim wie im Ausland unbeliebter als die Truppe von 1982 mit ihrem Anführer Breitner. Keine deutsche Nationalmannschaft hat dem deutschen Fußball einen größeren Imageschaden zugefügt. Breitner und Co., das waren die „hässlichen Deutschen“ auf dem Fußballfeld.
Auch andere Länder haben gute Fußballer
Jogi Löw hat Fehler gemacht. Und jeden dieser Fehler kann ich verstehen – wenn ich mich in die Denke eines Trainers hineinversetze. Es wird häufig so getan, als würden sich Trainer bei ihren Entscheidungen nichts denken. Als gäbe es nicht den geringsten Grund für ihre (falschen) Entscheidungen. Kaum jemand gibt sich die Mühe, die Entscheidungen des Trainers nachzuvollziehen. Hierfür typisch ist die Rotationsdebatte. Erst heißt es: „Khedira, Özil etc. – raus! Es muss das Leistungsprinzip gelten!“ Vor dem Spiel gegen Südkorea wird Löw dafür gelobt, dass er weiter konsequent rotiere. Bei diesem starken und ausgeglichenen Kader sei dies genau das Richtige. Anschließend wird kritisiert, dass der Bundestrainer zu viel rotieren ließ. Diese Rotation seit dem Mexiko-Spiel sei ein Zeichen der Schwäche gewesen. Ja, was denn nun?
Ich habe die DFB-Elf nie als ernsthaften Titelanwärter gesehen. Eher als eine Mannschaft für das Viertelfinale. Was ich nicht als tragisch empfand. Wir waren sechsmal in Folge in einem Halbfinale eines großen Turniers. Auch der deutsche Fußball besitzt darauf kein Abonnement. Und dann die Konkurrenten: Brasilien kam mit einem besseren Kader als 2014, Frankreichs ist ebenfalls deutlich besser als damals (von der individuellen Qualität her eine unfassbar gute Truppe, aber der Trainer …). Belgien, das 2014 und 2016 unter seinen Möglichkeiten spielte, hat eine Mannschaft, die gespickt mit Stars ist. Und gesegnet mit Stürmern wie Lukaku und Batshuayi, gegen die der zum neuen Hoffnungsträger des deutschen Fußballs gekürte Timo Werner doch ziemlich blass und technisch limitiert wirkt. Für einige der belgischen Stars ist dieses Turnier, ähnlich wie für Lahm und Schweinsteiger 2014, die letzte Chance, nach den Sternen zu greifen. Spanien ist auch nicht von schlechten Eltern, scheint seine Krise von 2014 überwunden zu haben. England, 2010 schwach und 2014 ein Totalausfall, spielt so gut wie schon lange nicht mehr – eben nicht mehr „typisch englisch“. Sieben bis acht Teams sah ich auf Augenhöhe mit uns oder darüber.
Eigene Möglichkeiten überschätzt
Der DFB hat im Vorfeld der WM zu stark auf dicke Hose gemacht. Mir ist schleierhaft, warum der DFB so offensiv und ohne Not die Mission Titelverteidigung ausgab; warum der DFB ignorierte, was in anderen Ländern seit 2014 vor sich ging; warum der DFB die Geschichte des Turniers und dessen eigene Gesetze komplett ausblendete. (Die letzte Titelverteidigung gelang Brasilien 1958 – und das war wirklich eine Ausnahmetruppe ohne ernsthafte Konkurrenz, was man vom Weltmeister 2014 nicht sagen kann.) Wir sind vielleicht mit dem besten, was der deutsche Fußball gegenwärtig zu bieten hat, ins Turnier gegangen. In der Breite war der Kader besser als 2014. Aber eben nur in der Breite, nicht in der Spitze. 2014 waren noch Lahm und Schweinsteiger dabei. Boateng, Hummels und Müller waren fitter und besser als 2018. Und es war nicht der beste Nationalmannschaftskader der Welt, mit dem Löw nach Russland fuhr. Einige der anderen Kader waren besser – vor allem in der Spitze.
Die Bedeutung des Triumphes von Rio wurde überschätzt. (Wie schon der Triumph von Rom 1990.) 2014 wurde Deutschland verdient Weltmeister. Aber ein Durchmarsch war es nicht. Gegen Algerien drohte bereits im Achtelfinale das Aus, das Viertelfinale gegen Frankreich war eine knappe Sache. Im Halbfinale wurde Brasilien deklassiert. Aber die damalige Seleção besaß weniger individueller Klasse als viele ihrer Vorgänger, zumal gegen Deutschland auch noch Neymar ausfiel. Das Finale gegen Argentinien hätte man auch verlieren können, wie Phillip Lahm unlängst im Interview mit dem Magazin „11 Freunde“ gestand: „Argentinien hatte drei Riesenmöglichkeiten in Führung zu gehen und wir in der regulären Spielzeit eine.“ Ich will den Triumph von Rio nicht kleinreden. Aber es war nicht so, dass man aus dem Turnier den Schluss ziehen konnte: Deutschland wird den Weltfußball die nächsten Jahre dominieren. In der öffentlichen Wahrnehmung – auch und gerade international – wird die damalige Kampagne häufig auf das furiose 7:1 gegen Brasilien reduziert.
Andere Nationen haben seither aufgeholt. Namentlich die Engländer, wo Gareth Southgate in ähnlicher Weise den Modernisierer spielt wie Klinsmann und Löw seit 2004.
Das Problem der Selbstüberschätzung betrifft nicht nur die Nationalmannschaft, sondern den gesamten deutschen Fußball. Es war schon nach dem „deutschen“ Champions-League-Finale 2013 zu beobachten. Seither reüssieren nur noch die Bayern in Europa. Die Bundesliga hinkt den Topligen Spaniens und Englands (mit Abstrichen auch Italiens) spielerisch hinterher, und das hat nicht in erster Linie finanzielle Gründe. Und mit dem Bundestrainer hat es überhaupt nichts zu tun.
Überspielte Weltmeister
Ein Problem war, dass die WM für eine neue DFB-Elf zu früh kam. Das Dilemma eines Nationaltrainers: Er spielt ein Turnier. Und wenn dieses zu Ende ist, besteht wenig Zeit, einen Neuaufbau zu betreiben und personell zu experimentieren. Denn nur wenige Monate später steht schon das nächste Pflichtspiel auf dem Programm: die Qualifikation für das nächste Turnier in knapp zwei Jahren. Die natürlich gelingen muss. Denn nicht dabei zu sein, wäre ja eine noch größere Katastrophe als ein Ausscheiden in der Vorrunde. Löw hat die Bedeutung der EM immer etwas heruntergespielt und den Fokus auf 2018 und die Verteidigung des WM-Titels gelegt. Insofern hatte er durchaus Raum zum Experimentieren und für größere personelle Umbrüche. Er experimentierte auch, aber von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, kann man nicht sagen, dass in dieser Zeit wirklich tolle Spieler die Bühne betraten. Was auch mit unserer Ausbildung zu tun hat, die mal wieder eines Reformschubs bedarf. Doch dazu später.
Eine Reihe von Spielern, vor allem die Weltmeister von gestern, wirkten überspielt, ja ausgelaugt. Die Müllers und Co. haben in den letzten acht bis zehn Jahren eine Unmenge von PFLICHTspielen absolviert. Bei Thomas Müller waren es 286 Bundesligaspiele, 44 Spiele im DFB-Pokal, 102 Spiele in den europäischen Wettbewerben plus ein Einsatz bei der Klub-WM. Länderspiele hat er 94 gemacht, 65 davon waren Pflichtspiele. Viele der Spiele waren mit Reisen verbunden. Macht 498 Pflichtspiele (nur Pflichtspiele!), macht 49,8 Pflichtspiele pro Saison. Wenn wir noch die Freundschaftsspiele (beim Klub verbunden mit Reisen nach Asien und in die USA) mitzählen, kommen wir auf mindestens 55 Auftritte pro Saison. Und die meisten dieser Spiele wurden mit einer deutlich höheren Intensität als noch zu Zeiten von Mario Basler gespielt.
Auf der einen Seite also überspielte „Altstars“, die man aber nicht so einfach in die Ecke stellt. Von denen man hofft, sie könnten noch ein letztes Mal richtig Gas geben. Und auf deren immense Turniererfahrung man setzt. Auf der anderen Seite junge Spieler, die aber noch nicht so weit sind, dass sie die „Alten“ gleichwertig ersetzen können. (Auch der talentierte Joshua Kimmich lässt Philipp Lahm nicht vergessen.) Ein Team zwischen den „Generationen“. Dass der Trainer es mit diesem Kader versucht hat, kann ich gut nachvollziehen. Genauso wie ich verstehen kann, warum es dann nicht geklappt hat.
Wenn man bei einem Turnier versagt, ist es relativ leicht, sich von erfahrenen Akteuren zu trennen und den Neuaufbau zu betreiben. Wenn man als Sieger aus dem Turnier geht, ist dies viel schwieriger. Dass der amtierende Weltmeister nun schon zum dritten Mal in Folge bereits in der Vorrunde ausscheidet, ist ja nicht nur Zufall. Als Weltmeister scheut man vielleicht mehr als andere Teams die personelle Erneuerung. Weltmeister schickt man nicht so schnell in die Rente. Im Nachhinein kann man sagen: Löw hätte mehr junges Blut in die Mannschaft bringen müssen. Ich bin mir aber sicher, dass ihn dann einige Medien als Hasardeur gegeißelt hätten. Und eine Mannschaft für den fünften Stern wäre es auch nicht gewesen.
Dann lese ich, Löw hätte Götze mitnehmen sollen. Der hat nun wirklich keine große Saison gespielt. Hätte Löw ihn mitgenommen, hätte man den Bundestrainer dafür kritisiert, dass er das Leistungsprinzip ignoriere und zu stark an seinen Weltmeistern festhalte – was exakt der Kritik entspricht, die ihm nun in den Fällen Müller, Özil und Co. entgegenschlägt. Und woher wissen wir, dass Götze bei der WM endlich wieder zu großer Form aufgelaufen wäre? Was für ein Theater wäre ausgebrochen, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre? Wo doch die ganze Nation davon überzeugt ist, dass die große Zeit des Mario Götzes vorbei ist. (Für viele ist Götze ja so ein zweiter Özil – schlechte Körpersprache, spricht kaum … Nur dass er wenigstens kein „Türke“ ist.)
Fehlender Spielertyp
Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass vor dem Turnier irgendwer die Nominierung Götzes gefordert hat. Im Gegenteil: Dass Löw ihn ignorierte, wurde als konsequente Haltung gelobt. Trotzdem enthält die Kritik an der Nichtberücksichtigung Götzes etwas Richtiges: Der deutschen Mannschaft mangelte es an „Unterschiedsspielern“, an Spielern, die mal ins Eins-gegen-Eins gehen können. Wie Leroy Sané, auf den Löw ebenfalls verzichtete, was aber in den Medien auf Zustimmung traf. Schließlich konnte Sané im Nationaldress nicht reüssieren. Die wenigen Eins-gegen-eins-Experten, die Löw hatte, stellte er in der Regel ins Zentrum, was möglicherweise ein Fehler war.
Das Problem des Fehlens dieser Spieler wurde von Löw und Co. bereits nach der WM 2014 erkannt (s.u.). Man ahnte nämlich, dass sich in Zukunft viele Mannschaften gegen die Deutschen tiefer positionieren würden. Tiefer als dies bei den WM-Turnieren 2010, wo man noch über größere Strecken Umschaltfußball spielen konnte, und 2014 gewesen war.
Hier ist es nicht gelungen, den Ballbesitzfußball weiterzuentwickeln. Hierfür hätte man mehr Eins-gegen-eins-Dribbler benötigt. Solche fehlen dem deutschen Fußball aber, von wenigen Ausnahmen abgesehen – und zwar nicht nur im Angriff, sondern auch auf den defensiven Außenpositionen. Dass das so ist, hat wenig mit dem Bundestrainer und viel mit unserer Ausbildung zu tun.
Nach der WM 2014 schrieb der damalige DFB-Sportdirektor Hansi Flick: „Unser Eindruck war, dass viele Spieler das Gefühl hatten, dass das System ihre Fehler auffängt. Nach dem Motto: Wenn ich den Zweikampf verliere, kann ich mich auf den Mitspieler verlassen, der hinter mir steht und das Problem löst. Wir müssen wieder eine andere Einstellung fördern, nämlich: An mir kommst du mit dem Ball nicht vorbei! Teil unserer Spielphilosophie muss sein, dass die Spieler Spaß daran haben, sich Mann gegen Mann zu messen. Genauso in der Offensive. Sie müssen das Selbstbewusstsein entwickeln, Eins-gegen-eins-Situationen anzustreben. Weil sie alle Möglichkeiten haben, vorbei zu gehen, weil sie ein großes Repertoire an Finten haben, weil sie über Geschwindigkeit und technische Qualitäten verfügen. Die Qualität der Mannschaft ist immer abhängig von der individuellen Qualität der Spieler. Das beste System nützt nichts, wenn die Spieler nicht gut sind.“
2017 klagte Bundestrainer Joachim Löw nach den schwachen Auftritten der Bundesligisten in den europäischen Wettbewerben:. „Wir haben viel zu wenige schnelle Spieler, die ins Eins-gegen-Eins gehen.“ Auch der Bund Deutscher Fußball-Lehrer (BDFL) analysierte die Defizite im Spiel der deutschen Mannschaften und der Ausbildung. Jan-Christian Müller schrieb anschließend in der „Frankfurter Rundschau“ unter der Überschrift „Mehr Mut zum Spaß“: „Die Diagnose der Fachleute: Hierzulande wird tendenziell lieber solide abgespielt als wild gedribbelt – dies gehe zu Lasten von Überraschungseffekten, die Gegner ließen sich so schwieriger überrumpeln. (…) Möglicherweise wurde in der Ausbildung von jungen Trainern und Spielern zu viel Wert auf Taktikschulung und Kombinationsspiel gelegt und zu wenig auf die Förderung individueller Stärken. Womöglich, so die These, würden individuelle Fähigkeiten sogar unterdrückt.“
Dieses Manko zu beheben, wird nicht von heute auf morgen gehen. Es setzt neue Schwerpunkte in der Ausbildung voraus. Darüber kann man etwas im gerade veröffentlichten Buch von Peter Hyballa, Hans-Dieter te Poel und mir lesen („Trainer, wann spielen wir?“). Dort haben wir u.a. geschrieben: „Manchmal fehlt dem ‚modernen Fußball‘ das Ungezähmte und Unvorhersehbare – und damit auch der Spaß. Wenn es noch eine Weiterentwicklung des Fußballs geben kann, dann vielleicht dahin, dass man diese Elemente wiederentdeckt und sie in den modernen Konzept- und Systemfußball integriert. Also: ein bisschen weniger Plan, ein bisschen mehr Kreativität, Spontanität und Improvisation – eben mehr Freiheit. Zwar steht heute das handlungsschnelle Passen im Zentrum der fußballerischen Ausbildung, aber auch der größte Konzept- und Systemtrainer hat nichts dagegen, wenn sein bester Spieler drei Gegner umdribbelt, bevor er den Ball zu einem (dadurch frei gespielten) Mitspieler passt oder ihn selber ins Tor haut.“
Angst vor dem Fehlpass und taktische Mängel
Natürlich gab es in Russland auch eine Menge taktischer Probleme zu beklagen. Beispielweise beim (inkonsequenten) Pressing nach Ballverlust im vorderen Drittel des Spielfelds, woraus sich für den Gegner immer wieder Konterchancen ergaben. Dann hinterließ die Begegnung gegen Mexiko eine große Verunsicherung. Die Angst vor dem Fehlpass war gerade bei den kreativeren Akteuren spürbar. Weshalb viel quer gespielt wurde, anstatt mal einen Risikopass in die Tiefe zu wagen. Besonders spürbar bei Gündogan gegen Schweden, der kaum die Pässe spielte, die ihn bei Manchester City auszeichnen. Özil war hier gegen Südkorea noch relativ aktiv, aber auch bei ihm war die Angst vor dem Ballverlust nicht zu übersehen. (Dabei fällt mir auf: So viele Kreativspieler, wie wir manchmal glauben, haben wir gar nicht.)
Löw vorzuhalten, er habe nur einen Plan A, aber keinen Plan B, C, D, E und F, verkennt, dass der Bundestrainer eine Nationalmannschaft trainiert. (Leider wird der mögliche Inhalt der Pläne B, C, D, E, F nie genannt.) Löw verfolgt den Anspruch taktischer Flexibilität. Diesbezüglich ist er vermutlich einer der fähigsten deutschen Trainer. Der (zu Recht) viel gepriesene Jürgen Klopp hatte beim BVB nicht einmal einen funktionierenden Plan B. Louis van Gaal bei den Bayern auch nicht. Der taktisch flexibelste Trainer, den wir in der Bundesliga hatten, war Pep Guardiola. Der hatte tatsächlich nicht nur Plan A und Plan B in seinem Köcher, sondern auch noch die Pläne C, D, E und F. Aber Guardiola trainierte eine Vereinsmannschaft, mit der er täglich arbeiten konnte. Hochgeschwindigkeitsfußball gegen einen tiefstehenden Gegner, das konnten in den letzten Jahren so richtig nur Vereinsmannschaften spielen. Wie der FC Barcelona (mit Messi) und die Bayern (mit Ribéry und Robben).
Hochgeschwindigkeitsfußball gegen tiefstehende Gegner setzt nicht nur flinke Dribbler und geniale Passspieler voraus, sondern auch ein fast schon blindes Spielverständnis – damit der Ball mit Tempo zirkuliert. Mit einer Nationalmannschaft kann das nur funktionieren, wenn man über größere Blöcke von Spielern aus einem Verein verfügt. Und auch hier nur ansatzweise. Einer Nationalmannschaft mehr als zwei, maximal drei Pläne einzubläuen, bis hin zur perfekten Beherrschung (ansonsten macht dies wenig Sinn), ist schier unmöglich. Ganz abgesehen davon, dass man dafür auch Spieler benötigt, mit denen man die Pläne umsetzen kann. Nehmen wir mal Deutschlands linke Seite. Wenn dort defensiv Jonas Hector oder Marvin Plattenhardt spielen, bleibt nur die Option des Flankens oder Querpassens. Keiner der beiden Spieler ist dazu in der Lage, mit Tempo und im Eins-gegen-Eins nach innen zu ziehen.
Am Sonntag, also drei Tage vor dem Spiel gegen Südkorea, radelte ich in Berlin auf der Straße „Unter den Linden“. Aus Madame Tussauds dröhnte der Gassenhauer „Ohne Holland fahren wir zur WM.“ Da dachte ich: „Vielleicht gar nicht schlecht, wenn wir mal wieder eins auf die Nase kriegen.“
Von Dietrich Schulze-Marmeling erschien zuletzt „Celtic. Ein ‚irischer‘ Verein in Glasgow“ sowie „Trainer, wann spielen wir? Spielformen für den Fußball von heute und morgen“ (zusammen mit Peter Hyballa und Hans-Dieter te Poel).