Es war eine „Lehrstunde“, wie der „Kicker“ schrieb – und wer würde dem Fachblatt da widersprechen. Gerade auch im übertragenen Sinne steht Ajax Amsterdam für einen Weg, an dem sich viele Klubs in Deutschland ein Beispiel nehmen könnten.
Mit 0:4 kassierte Borussia Dortmund am letzten Dienstag eine herbe Klatsche in der Amsterdamer Johan-Cruijff-Arena. Ajax war dem BVB in allen Belangen überlegen. Der Kicker registrierte typischen Ajax-Fußball: „Die Gastgeber nutzen ihre Räume gut aus, die offensiven fünf rochierten pausenlos, ohne Positionen unbesetzt zu lassen. (…) Gegen den Ball agierte Amsterdam mit einem mannbezogenen, hohen und aggressiven Pressing." Von den letzten fünf Begegnungen mit Ajax gewann die Bundesliga nur eine.
Wer die Entwicklung von Ajax in den letzten Jahren verfolgt hat, war vom Auftritt gegen Dortmund nicht wirklich überrascht. In der Saison 2016/17 hatte Amsterdam das Finale der Europa League erreicht, zwei Spielzeiten später stand Ajax im Halbfinale der Champions League. Und damit hatte es – erstmals seit der Saison 2004/05 (PSV Eindhoven) – wieder ein Team unter die letzten Vier der „Königsklasse“ geschafft, das nicht aus den Topligen Spaniens, Englands, Deutschlands, Italiens oder Frankreichs kam. Kapitän dieser Ajax-Mannschaft war der 19-jährige Matthijs de Ligt, der aus der eigenen Jugend kam.
Nur Real und Milan waren besser
Bis Mitte der 1990er Jahre gehörte Ajax zu den erfolgreichsten Klubs in Europa. Viermal gewann man den Europapokal der Landesmeister bzw. die Champions League. 1995 sicherte Ajax sich letztmals den „Königsklassen“-Titel auf eine Art, die die Fußballwelt mit der Zunge schnalzen ließ. Im Jahr darauf standen sie wider im Finale, unterlagen aber Juventus Turin nach Elfmeterschießen. In der „ewigen Rangliste“ der europäischen Champions belegte Ajax hinter Real Madrid und der AC Mailand gemeinsam mit dem FC Liverpool Rang drei.
Am 15. Dezember 1995 gab der Europäische Gerichtshof (EuGH) einer Klage des belgischen Profis Jean-Marc Bosman gegen eine zu hoch angesetzte Ablösesumme seines Arbeitgebers Standard Lüttich statt. Die Folge war ein Verbot aller Ablöseforderungen für den Wechsel eines Spielers von einem EU-Staat in den anderen nach Vertragsende. Auch die in einigen Ländern geltenden Ausländerbeschränkungen wurden – soweit Spieler sie aus EU-Staaten betrafen– für ungültig erklärt.
Exodus der Stars und Talente
Keine der europäischen Topadressen wurde von der EuGH-Entscheidung so hart getroffen wie der Ausbildungsverein Ajax. Zwar besaß mit der im August 1996 eingeweihten Johan-Cruijff-Arena endlich ein international konkurrenzfähiges Stadion, verlor aber binnen kurzem eine international konkurrenzfähige Mannschaft. Trainer Louis van Gaal hatte die Champions League mit jungen, zukunftsträchtigen Spielern gewonnen, von denen viele aus der Ajax-Nachwuchsakademie „De Toekomst“ stammten.
Doch mit dem „Bosman-Urteil“ erfolgte ein Exodus von hochkarätigen Talenten, wie ihn wie kein anderer europäischer Traditionsklub zu beklagen hatte. Von den 13 Spielern, die 1995 das Champions-League-Finale bestritten hatten (neun Akteure der Startformation entstammten der eigenen Jugend), verließen in den folgenden Jahren elf den Klub: Michael Reiziger (1996 zum AC Mailand, ab 1997 FC Barcelona), Ronald de Boer (1998 FC Barcelona), Frank de Boer (1999 FC Barcelona), Clarence Seedorf (1995 Sampdoria Genua, ab 1996 Real Madrid), Edgar Davids (1996 AC Mailand, ab 1997 Juventus Turin), Marc Overmars (1997 Arsenal London), Nwankwo Kanu (1996 Inter Mailand, ab 1999 Arsenal London), Patrick Kluivert (1997 AC Mailand, ab 1998 FC Barcelona), Finidi George (1996 Betis Sevilla), Jari Litmanen (1999 FC Barcelona), Edwin van der Sar (1999 Juventus Turin, ab 2005 Manchester United). Nummer zwölf war Winston Bogarde, der im Champions-League-Finale auf der Bank gesessen hatte (1997 AC Mailand, ein halbes Jahr später FC Barcelona). Nur die Veteranen Danny Blind und Frank Rijkaard, zum Zeitpunkt des Champions-League-Triumphes bereits 33 bzw. 32 Jahre alt, blieben in Amsterdam.
Vor 1995 hatten an namhaften Talenten nur die Jungnationalspieler Bryan Roy und Dennis Bergkamp den Verein in Richtung Serie A verlassen. Roy wechselte 1992 zu US Foggia, Bergkamp 1993 zu Inter Mailand und von dort 1995 zu Arsenal London.
Nach Bosmann sah Ajax für seine exzellent ausgebildeten Spieler nicht einmal Geld. Für Clarence Seedorf, der vor dem Bosman-Urteil nach Genua gewechselt war, hatte man noch 5,3 Mio. DM kassiert. Aber als sich das Quartett Reiziger, Kluivert, Davids, Bogarde innerhalb von 24 Monaten der AC Mailand anschloss, ging Ajax leer aus. Die Großen und Reichen bedienten sich an den exzellent ausgebildeten Ajax-Profis.
De Toekomst
Im Sommer 2011 begann Ajax mit einer Überarbeitung seiner Nachwuchsarbeit. Ein paar Monate später äußerten sich in Voetbal International die von Johan Cruijff protegierten De-Toekomst-Chefs Wim Jonk und Dennis Bergkamp zu den kulturellen Veränderungen. Dennis Bergkamp: „Wir bekommen im Jugendbereich oft zu hören, dass Ajax gewinnen müsse. Das ist Unsinn. Jugendspieler müssen sich entwickeln. Gewinnen müssen sie erst in der 1. Mannschaft. Es ist wichtig, Druck und Kampfgeist von den Jungs möglichst lange fernzuhalten. Der Druck ist doch ohnehin da: Auch in der Jugend geben unsere Gegner gegen Ajax Vollgas, jeder will gegen Ajax gewinnen.“
Und Wim Jonk: „Vorher waren die Jugendtrainer zu stark mit dem Gewinnen von Wettbewerben beschäftigt. Einige hatten Angst, nach Resultaten beurteilt zu werden. Dadurch wurde der Austausch von Spielern erschwert, also dass ein Spieler in seiner Mannschaft mal auf einer anderen Position spielt oder ein besonders guter Spieler mal in einer älteren Mannschaft geprüft wird. Das macht der Trainer nicht, wenn er Angst hat, dass sein Team dadurch verliert. (...) Wir schauen, ob ein Spieler ein spezifisches Training nötig hat, auf dem Gebiet der Technik, der Motorik oder Kraft. Der Hauptaugenmerk liegt auf der technischen Entwicklung, aber wir betrachten natürlich auch alle anderen Aspekte.“
Zusammengefasst ging es um eine stärkere Betrachtung und Beschäftigung mit dem einzelnen Spieler, um Technik vor Taktik, um weniger Erfolgs- und mehr Ausbildungsorientierung.
Im Prinzip galt aber noch immer das bereits viele Jahre zuvor entwickelte und von Cruijff geprägte TIPS-Modell. Die Abkürzung TIPS steht für Technik, Intelligenz, Persönlichkeit und Schnelligkeit. Die Architekten von TIPS wollten „Meister am Ball“ ausbilden. Der Klub geht beim Talentscouten davon aus, dass Intelligenz, Persönlichkeit und Schnelligkeit, größtenteils anlagebedingt sind, weshalb sich an diesen Dingen nur eingeschränkt arbeiten lässt. Deshalb galt diesen drei Qualitäten ein besonderes Augenmerk. Anders sieht dies mit der Technik aus. Diese kann systematisch verbessert werden.
Gescoutet wird bei Ajax für die Altersklassen sieben bis zwölf Jahre in einem 50-Kilometer-Radius in und um Amsterdam. Bei den älteren Jahrgängen ist man auch in Dänemark und Schweden unterwegs – also in Ländern, die in der internationalen Fußballhierarchie etwas unterhalb der Niederlande einzuordnen sind, in denen aber ebenfalls gut ausgebildet wird. Das Gros der Ajax-Nachwuchsspieler aber kommt aus Amsterdam und Umgebung.
Im November 2015 beendete Cruijff seine Beratertätigkeit bei Ajax. Der Ajax-Vorstand wollte mit dessene Ziehsohn Wim Jonk nicht weiterarbeiten. Der „De Toekomst“-Leiter hatte die Transfer-Politik des Klubs kritisiert, die seine Arbeit erschweren würde. Wim Jonk war der größte Cruyffist in der De Toekomst. Er dachte und arbeitete ähnlich kompromisslos wie sein Mentor.
Ajax holt immer auch wieder erfahrene Kräfte, die der Mannschaft Stabilität verleihen und an deren Seite die Talente wachsen können. Gegen den BVB waren fünf Feldspieler 23 und jünger. Das Durchschnittsalter dieser fünf Akteure betrug 21,2 Jahre. Mit den zwei Einwechselungen waren sieben von 14 Feldspielern 23 Jahre und jünger. Das Durchschnittsalter dieser „Altersgruppe“ sinkt mit ihnen auf 20,4. Der Altersdurchschnitt aller zehn Feldspieler der Startformation (den Torwart lassen wir mal außen vor, der war mit 37 „uralt“), betrug exakt 25 Jahre.
Kaderwert: In der Bundesliga Platz fünf
Cruyff und seine Mitstreiter versprachen vollmundig eine Rückkehr von Ajax in die europäische Spitze. Kritiker wie Henk Spaan, Herausgeber des Fußballmagazins Hardgrass, wandte ein, dies sei heute in Anbetracht der finanziellen Kräfteverhältnisse in Europa und der Qualitätsunterschiede zwischen den Ligen nicht mehr möglich. Spaan verwies hier auf die Untersuchung von Simon Kuper und Stefan Szymanski in ihrem Buch Soccernomics. Aufgrund der guten Nachwuchsarbeit könnte Ajax vielleicht mal die Champions League gewinnen – aber nur als eher zufälliges und singuläres Ereignis, so wie Mourinhos FC Porto 2004. Anschließend würden die finanzkräftigeren Klubs Europas Ajax auskaufen. Ein Dauergast unter Europas Besten könne Ajax nie wieder werden.
Dies ist zweifellos richtig. Aber immerhin reicht es dazu, den Großen ab und an Paroli zu bieten und für eine Überraschung zu sorgen. Denn so klein ist Ajax ja gar nicht. Mit einer klugen Kaderpolitik gelingt es, Werte zu schaffen: Transfermarkt.de beziffert den Gesamtwert des Ajax-Kaders mit 338,5 Mio. Euro. In der Bundesliga würde dies für Platz fünf reichen – noch vor Wolfsburg, Gladbach, Frankfurt.
Ohne Bosman und mit dem Geld, das der FC Barcelona mal hatte (genauer: mal ausgab), hätte Ajax der nächste FC Barcelona werden können. De Ligt und Co. wären vermutlich geblieben, zusätzlich hätte man das eine und andere internationale Talent holen können. Eine Mannschaft mit einer ähnlichen Struktur, Identität und Qualität wie das große Barça von Johan Cruijff und Pep Guardiola wäre möglich gewesen. Das von Johan Cruijff geschaffene moderne Barça, das 1992 erstmals den Europapokal der Landesmeister gewann, war ja zumindest in Teilen eine Kopie des Ajax-Weges gewesen.
Was lehrt uns das Beispiel Ajax?
Erstens: Wenn du nicht zu den ganz Großen in Europa gehörst, ist Ausbildung umso wichtiger. Um Spieler „heranzuzüchten“, die du dir als Transfers nicht leisten kannst. Und um Spieler gewinnbringend zu verkaufen, damit du einen schlagkräftigen Kader finanzieren kannst. Kontinuität in der Ausbildung hilft auch, Abgänge zu verschmerzen. Gegen den BVB standen drei Spieler in der Startformation, die in De Toekomst ausgebildet worden sind: Noussair Mazraoui (23 Jahre), Jurrien Timber (20) und Ryan Gravenberch (19). Später Schickte Coach Erik ten Hag noch Devyne Rensch (18) aufs Feld, ebenfalls ein waschechter „Ajaciede“.
Zweitens: Schaffe niemals deine U21/U23 ab. Als Bayer Leverkusen und Eintracht Frankfurt ihre U23-Teams einstampften, um Geld einzusparen, zürnte Jürgen Klopp: „Das ist eine Katastrophe. Das ist eine ganz schlimme Entscheidung.“ Spielern würden damit Raum und Zeit für Entwicklung genommen. Wer seine U23 abschafft, verschenkt diese Spieler. Zum Erfolgsgeheimnis von Ajax gehört auch die hauseigene 2. Mannschaft, „Jong Ajax“.
Früher lieh Ajax junge Spieler aus, damit diese Spielpraxis sammeln. Heute bekommen sie diese im eigenen Verein. Jong Ajax bzw. Ajax II spielt in der 2. Liga wie auch die „Zweite“ der PSV Eindhoven. Das Mitwirken dieser Teams ist ähnlich unpopulär wie das der 2. Mannschaften deutscher Erstligisten in der 3. Bundesliga oder Regionalliga. Aber für junge Talente ist diese Liga eine großartige Schule, wenn sie sich mit Spielern messen müssen, die ihnen technisch vielleicht nicht das Wasser reichen können, aber physisch stärker und an Erfahrung reicher sind. 2017/18 wurde Jong Ajax in der 2. Liga sogar Meister, durfte aber natürlich nicht aufsteigen.
Donny van de Beek (Manchester United) und Matthijs de Ligt (Juventus Turin) wurden beide in der De Toekomst ausgebildet und spielten anschließend zunächst für Ajax II. Zunächst „nur“ für Ajax II kickte auch Frenkie de Jong (FC Barcelona), der 2016 zu Ajax gewechselt war, wo er zunächst 48 Spiele für Jong Ajax bestritt. In der aktuellen Saison 2021/22 beträgt das Durchschnittsalter von Jong Ajax 19,4 Jahre.
Drittens (und trotz des Bedeutungsverlustes der niederländischen Liga in Folge von Bosman): In den Niederlanden wird weiterhin Profifußball gespielt. Vor Corona betrug der Zuschauerschnitt 18.233 – beachtlich für ein Land, dessen Einwohnerzahl nur ein gutes Fünftel der Bundesrepublik beträgt. In den letzten beiden Spielzeiten vor der Pandemie verbuchte Ajax einen Zuschauerschnitt von 52.000 und 53.000.
Also: Keine Angst vor einer Bundesliga, die wieder etwas normaler wird. Soll heißen: Weniger Zuschauer, geringere Einnahmen. Und irgendwann vielleicht auch ohne zwei, drei Vereine, die eine europäische Superliga vorziehen.