Abraham Klein erblickte 1934 im rumänischen Timisoara das Licht der Welt. Die heute ca. 320.000 Einwohner zählende Stadt im Westen Rumäniens wird häufig als schönste des Landes beschrieben. Kleins Erinnerungen an Timisoara sind weniger schön. 1920 zählte die Stadt über 8.000 Bürger jüdischer Abstammung, das waren etwa zehn Prozent der damaligen Bevölkerung. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte der Antisemitismus in Timisoara Hochkonjunktur. Im August 1941 wurden alle männlichen Juden zwischen 18 und 50 Jahren in ein Zwangsarbeitslager verfrachtet. Außerdem konfiszierten die Behörden einen Großteil des jüdischen Immobilieneigentums.
Am 17. August 1942 stimmte der rumänische „Staatsführer“ Marshall Ion Antonescu der Deportation der Juden aus Arad, Timisoara und Turda zu. Aus Timisoara wurden bis 1943 2.888 Menschen verschleppt. 1947 lebten wieder etwa 13.600 Juden in Timisoara, viele von ihnen waren ab 1943 aus Ungarn geflohen.
Aber Timisoaras Juden wurden unter der nun kommunistischen Herrschaft nicht heimisch. Die meisten wanderten nach Israel aus. Heute steht in Timisoara nur noch eine von ehemals sechs Synagogen, die Zahl der Juden beträgt nur wenige hundert.
Ein großer Teil der Familie Abraham Kleins wurde Opfer des Holocausts. Abrahams Vater, der in Budapest für die 2. Mannschaft des stark jüdisch geprägten MTK gespielt hatte, verließ Rumänien 1937. Abraham war damals 13. Er überlebte die Judenverfolgung in einer engen Wohnung – mit seiner Mutter, deren sechs Schwestern und den Großeltern.
1947 wurde Klein mit 500 jüdischen Kindern zur Erholung ins niederländische Apeldoorn gebracht. Seither galten seine Sympathien mehr Apeldoorn als seiner Geburtsstadt. Nach einem Jahr ging Klein nach Israel und in ein Kibbuz, anschließend zu seinen Eltern, die nun in Haifa lebten.
„Partner mit Durchsetzungsvermögen“
Klein, der nicht das fußballerische Talent seines Vaters besaß, wurde Schiedsrichter. 1958 pfiff er in Israel sein erstes Ligaspiel, 1965 seine erste internationale Begegnung, als Israel ein Freundschaftsspiel gegen die Niederlande bestritt. Ebenfalls 1965, da war Klein erst 31, leitete er vor 80.000 Zuschauern in Rom das WM-Qualifikationsspiel Italien gegen Polen. 1969 war er Schiedsrichter der Begegnung Hapoel Nahariya gegen Bayern Hof, der ersten zwischen Teams aus Israel und der Bundesrepublik Deutschland. Und bei der WM 1970 in Mexiko leitete er das Spiel des Noch-Weltmeisters England gegen den späteren Turniersieger Brasilien. Es war eine der besten Begegnungen des Turniers – auch dank des ausgezeichneten Schiedsrichters. Bei der WM 1974 war Klein nicht dabei. Auf Grund des Attentats auf die israelischen Sportler bei Olympia 1972 in München war die Gefahr zu groß.
1978 fand die WM in Argentinien statt, das seit März 1976 von einer brutalen Militärdiktatur regiert wurde. Zur Freude der FIFA, die, so Organisationschef Hermann Neuberger, mit der Junta „einen Partner mit Durchsetzungsvermögen“ bekommen hatte. Am 10. Juni traf Gastgeber Argentinien auf Italien. Beide Teams hatten sich bereits für die zweite Finalrunde qualifiziert, aber der Sieger durfte in Buenos Aires bleiben. Zum Entsetzen der Gastgeber behielt Italien vor 77.260 Zuschauern im Estadio Monumental mit 1:0 die Oberhand. Bester Mann auf dem Platz war Abraham Klein, der sich wie immer auf die beiden Mannschaften akribisch vorbereitet hatte. Denn anders als seine Kollegen bei den vorausgegangen Auftritten der Argentinier, ließ sich Klein weder von der fanatischen Kulisse noch von den offensichtlichen Wünschen der Gastgeber einschüchtern. Für Klein war es das schwierigste Spiel seiner Karriere, zumal er mit zwei Teams zu tun hatte, die gerne Frei- und Strafstöße schindeten und permanent reklamierten. Dem Journalisten Simon Kuper erzählte Klein später: „Ich glaube, dass alle Schiedsrichter fair sind, aber wahrscheinlich sind nicht alle von ihnen tapfer.“ Der nur 1,55 Meter große Klein war allerdings verdammt tapfer.
Der renommierte englische WM-Chronist Brian Glanville schrieb später: „Bei dieser Weltmeisterschaft gab es nichts eindrucksvolleres als die Haltung, in der Klein in der Halbzeit der Begegnung Argentinien gegen Italien zwischen seinen Linienrichtern die Pfiffe der aufgebrachten Menge verachtete.“ David Lacey schrieb im “Guardian”, dass Italien eine wunderbar ausgeglichene und abgestimmte Vorstellung geboten hätte. Aber dass die Italiener dazu in der Lage waren und das Feld als Sieger verlassen durften, sei zu einem großen Teil „Abraham Klein aus Israel“ zu verdanken, „dessen exakte und faire Leitung des Spiels genau das war, was die Situation verlangte.“ Es blieb die einzige Niederlage der Argentinier bei dieser WM. Vielleicht weil Klein ein besserer Unparteiischer war als seine Kollegen.
Viele Experten gingen nun davon aus, dass Klein das Finale zwischen dem Gastgeber und den Niederlanden leiten würde. Brian Glanville schrieb in der „Sunday Times“:„Ich hoffe, der tapfere, kleine Israeli Abraham Klein bekommt das Finale.“ Aber die argentinischen Funktionäre lehnten den Israeli ab. Statt Abraham Klein erhielt der Italiener Sergio Gonella den Zuschlag, angesichts der engen historischen Beziehungen zwischen Argentinien und Italien eine fragwürdige Entscheidung. Für Klein blieb nur das „kleine“ Finale zwischen Brasilien und Italien. Der deutsche WM-Schiedsrichter Ferdinand Biwersi empörte sich später: „Was rund um die Schiedsrichteransetzung bei dieser WM geschehen ist, war schlimm. Mit Sport hatte das nichts zu tun.“ Der walisische Referee Clive Thomas nannte die Entscheidung pro Gonella eine „große Schande.“
Tatsächlich zeigte sich Gonella bei den 120 Minuten zwischen Argentinien und den Niederlanden überfordert. Auf dem miserablen Rasen des Estadio Monumental entwickelte sich nicht nur ein temporeiches, sondern auch das körperbetonteste Finale der WM-Geschichte, in dem beide Teams mächtig austeilten. Nach nur fünf Minuten hatte Gonella bereits acht Freistöße gepfiffen, wobei auffiel, dass der Italiener bei argentinischen Vergehen schon mal ein Auge zudrückte. Den Niederländern wurde schnell klar, dass dies kein normales Finale werden würde. Ruud Krol: „Im Finale mussten wir gegen Argentinien, das Publikum, die Schiedsrichter und die Organisation spielen.“
Boykottdrohungen
Eine These lautet, Klein habe das Finale nicht bekommen, weil die Argentinier der Auffassung waren, er würde als Jude und wegen seiner Liebe zu Apeldoorn zwangsläufig mit den Niederlanden sympathisieren. Wahrscheinlicher ist, dass Klein die Gastgeber mit seinem aufrechten Auftritt beim Spiel gegen Italien fürchterlich genervt hatte. Antisemitismus dürfte aber auch eine Rolle gespielt haben. Ein Jahr nach der WM wurde Julio Grondona, genannt „der Pate“, Boss des argentinischen Fußballverbands. Ab 1988 saß er auch im FIFA-Exekutivkomitee, später wurde er Vorsitzender der Finanzkommission des Weltfußballverbands. 2003 erzählte Grondona, was er von jüdischen Schiedsrichtern halte: „Ich glaube nicht, dass Juden Top-Schiedsrichter sein können. Dies würde harte Arbeit bedeuten und, wissen Sie, Juden mögen keine harte Arbeit.“
Kleins Nominierung für die WM 1982 war zunächst unsicher. Mit Algerien und Kuwait hatten sich zwei arabische Länder für die Endrunde in Spanien qualifiziert. Arabische TV-Stationen drohten mit einem Boykott, sollte ein Israeli beim Turnier pfeifen. Schließlich wurde ein Kompromiss gefunden: Klein durfte pfeifen, aber bei Übertragungen in die arabische Welt verschwand sein Name vom Bildschirm. Klein leitete die dramatische und hochklassige Begegnung Brasilien gegen Italien, die der spätere Weltmeister mit 3:2 gewann.Der Israeli pfiff wie immer exzellent und wurde erneut als Kandidat für das Finale Italien gegen Deutschland gehandelt. Aber den Zuschlag erhielt der Brasilianer Arnaldo Coelho. Immerhin durfte Klein als Linienrichter amtieren. Und im Falle einer Wiederholung des Finales wäre er mit der Leitung des Spiels betraut worden.
Dietrich Schulze-Marmeling gilt seit Jahren als einer der besten deutschen Buchautoren in Sachen Fußballgeschichte. Im Verlag Die Werkstatt veröffentlichte er u.a. Bücher zur Fußballweltmeisterschaft (Mitherausgeber „Das Goldene Buch der Fußball-Weltmeisterschaft“) sowie zu den Vereinen Bayern München und Borussia Dortmund. Sein Buch „Barca“ hat im Jahr 2010 bei der Wahl zum Fußballbuch des Jahres den dritten Platz belegt. „Der FC Bayern und seine Juden“ wurde ein Jahr später zum Fußballbuch des Jahres gewählt.