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Fußball

 

Die walisische Fußball-Nationalmannschaft schwört sich ein (hier vor dem Freundschaftsspiel gegen die Niederlande im November 2015) – CC BY-SA 2.0: Jon Candy, (ohne Titel), https://www.flickr.com/photos/joncandy/21959436558/

von Dietrich Schulze-Marmeling – Die EM neigt sich ihrem Ende zu. Schon jetzt kann man sagen: Die Qualität war nicht berauschend. Hierfür wird u.a. die Ausweitung des Turniers von 16 auf 24 Mannschaften verantwortlich gemacht.

In der Tat gab es das eine oder andere gruselige Spiel. Nordirland gegen Wales war nach unseren Maßstäben bestenfalls 2. Bundesliga. Aber auch diese schauen wir uns an. Und den „Großen“ wurde nicht verboten, besser zu spielen. Die Kleinen haben nicht das Niveau der Großen hinuntergezogen. Dass Underdog-Teams einen eher defensiven, gearbeiteten Fußball bevorzugen, ist nichts Neues.

 

Warum Topfußball bei Großturnieren schwierig ist und die „Kleinen“ Vorteile haben

Wir erinnern uns an die EM 2004, als das Feld noch auf 16 Teams beschränkt war. Mit Griechenland gewann das Team, das von den acht Viertelfinalisten spielerisch den schwächsten Eindruck hinterließ und „Minimalistenfußball“ praktizierte. Rehhagels Elf schoss in sechs Spielen nur sieben Tore. Die drei K.-o.-Spiele nach der Vorrunde wurden jeweils mit 1:0 gewonnen. In den 14 Quali-Spielen hatte man nur 15-mal getroffen. Griechenland 2004 war ein Champion gegen den Trend im internationalen Fußball. Die Zeit schrieb damals über die griechische EM-Kampagne: „Erst schlug Rehhagels Elf die Franzosen, dann sogar die Tschechen, am Ende die Portugiesen. Erst machte er die Schönen hässlich, dann machte er die Starken schwach, am Ende die Kreativen ideenlos.“ Also: Auch vor 2016 wurde nicht nur guter Fußball gespielt. Und 2004 triumphierte der „schlechte“ und „unattraktive“ Fußball sogar.

Wer hofft, bei einer WM oder EM würde durchgehend Top-Fußball geboten, setzt auf die falschen Veranstaltungen. Im Zeitalter der Champions League ist das nur zu offensichtlich. Spiele wie die des FC Bayern in dieser Saison gegen Juventus Turin und Atlético Madrid bekommt man bei einer EM kaum oder gar nicht zu sehen. Wie auch? Die Teams sind nicht wirklich eingespielt und das Turnier startet am Ende einer langen und gerade für die Top-Spieler strapaziösen Saison. Ein Thomas Müller hatte vor dem Halbfinale bereits 61 Partien auf dem Buckel und wirkt entsprechend überspielt. Ewald Lienen: „Unser Fußballbetrieb ist völlig aufgebauscht, die Spitzenspieler sind für mich völlig überbelastet. (…) Es geht eben nicht, dass du 60 oder 70 Spiele auf hohem Niveau spielen kannst. Und noch mal und noch mal und noch mal …“ Es ist aber nicht nur die Zahl der Spiele. Hinzu kommen die damit verbundenen Reisestrapazen der Champions-League-Akteure. „Spätentwickler“ Jonas Hector wirkte frisch, weil ihm die europäische Fußballbühne erspart geblieben war. Auch viele Spieler der Underdogs genossen diesen Vorteil.

Spielweisen nicht ohne einen gewissen Reiz

Auch ich liebe den Fußball des FC Barcelona, der Guardiola-Bayern etc. Aber der Fußball bezieht seinen Reiz auch daraus, dass hier unterschiedliche Philosophien aufeinanderprallen. Und dass es schon mal vorkommt, dass ein von seiner individuellen Klasse her hoch überlegenes Team an einem mauernden, kratzenden und beißenden Underdog scheitert. Ilja Behnisch schreibt im Tagesspiegel:

„Ganz abgesehen davon, dass die Frage nach der Qualität und Schönheit eines Fußballspiels dem eines Glaubensbekenntnisses gleichkommt. Wer kritisiert, dass die Partien hinter dem zurückstehen, was man aus dem Vereinsfußball kennt, hat aus den Augen verloren, worum es bei einer Europameisterschaft geht. Denn noch wird bei diesem Turnier einfach nur ein Sieger ermittelt, mithin zur besten Nationalmannschaft des Kontinents gekürt. Es werden weder Innovationspreise für taktische Finessen vergeben, noch B-Noten für vermeintlich schönes Spiel. Vielmehr geht es um das klassische ‚Wir gegen die‘; mit sportlichen Mitteln. (…) Wer kritisiert, dass sich Isländer, Nordiren und Ungarn in aufopferungsvollen Defensivtaktiken versuchen, hat den Fußball tatsächlich nie geliebt, sondern leidet an Event-Sehnsucht. (…) Dass es selbst die vermeintlich schwächsten Mannschaften geschafft haben, stabile taktische Gebilde zu formieren und oft fast fehlerlos mit Leben zu erfüllen, ist mindestens bemerkenswert.“

Fankultur vom Feinsten

Auch bescherten uns die „Kleinen“ die besten Fans. Für die schönsten Geschichten sorgten die Fans der Nordiren, Iren, Waliser und Isländer, die das hässliche Bild der ersten Turniertage (russische und englische Hooligans, deutsche Rechtsradikale) korrigierten. Dies gilt auch für die Schweden. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die besten Fans häufig aus den kleinen Ländern kommen. Ihre Begeisterung ist authentischer und weniger chauvinistisch als das großkotzige und einfallslose Gehabe eines – leider sehr sichtbaren – Teils der Fans einiger großer Länder. (Allerdings war das Verhalten kroatischer und ungarischer Fans auch nicht gerade sympathisch – aber diese Länder haben auch eine andere Geschichte als Iren, Waliser und Isländer.)

Hilfreich ist auch die andere Bedeutung der Nationalmannschaft. Die „Kleinen“ haben den Vorteil, dass sie nicht über starke Klubmannschaften verfügen. Die Nationalmannschaft ist deshalb das Ding schlechthin, wird gewissermaßen zu einer Vereinsmannschaft. Während deutsche Fans ihre Kreativität in den Farben ihres Vereins in den Bundesligastadien austoben, bleibt den „Kleinen“ hierfür nur die Nationalelf. Für den Fan der Bayern, des BVB oder der Schalker ist es schwierig, nun plötzlich den Spieler der anderen zu mögen. Iren, Waliser und Isländer haben auch ihre individuellen Vorlieben, aber in der Regel sind dies keine irischen, walisischen oder isländischen Vereine, sondern Klubs aus der Premier League. Bei Länderspielen zählt nur, dass der Spieler für ihr Land spielt. (Ganz abgesehen davon, dass man stets stolz darauf ist, wenn es ein Ire, Waliser oder Isländer zu einem englischen Profiklub geschafft hat.) Der Enthusiasmus wird nicht durch die größere Bedeutung des eigenen Klubs und die Rivalität zwischen den heimischen Klubs gebremst. Auch die deutlich geringeren Erwartungen, mit denen man zu einem Turnier reist, sorgt zunächst einmal für eine gewisse Entspanntheit – und komplettes Ausrasten (im positiven Sinne), wenn dann wider Erwarten Punkte eingefahren werden.

Mehr Teilnehmer heißt auch mehr Europa!

Selbstverständlich hat auch die Ausweitung des Turniers und vielleicht noch mehr der Qualifikationsmodus für das Achtelfinale zur schwachen Qualität beigetragen. Seit der Ausweitung der WM auf 32 Teams bestand der Vorteil einer EM in der höheren Leistungskonzentration und damit auch größeren Zahl ansehnlicher Spiele. Diese Überlegenheit hat die EM verloren.

Aber wenn der Lohn dafür mehr Europa ist, ist der Preis okay. Ich zitiere aus einer Mail meines fußballbegeisterten und europapolitisch engagierten Freundes Hans-Peter Hubert, der auch einige Zeit Funktionär des Berliner Klubs FC Internationale war (1):

„Auch ich habe im Kreis der Jungs, mit denen ich hier nicht nur die EM schaue (überwiegend „Internationalisten“, aber nach eigener Einschätzung „echte Fußballer“ – also Strukturkonservative, die ihre Wertungen meist unter dem Aspekt abgeben, was sie reizvoll fänden, wenn sie selbst im Jogi-Kader stünden), die Diskussion: Wie sinnvoll ist eine 24er-EM? Die Kollegen finden das i.d.R. doof. Da zählt nur: Wie viele Spiele finden auf sportlich hohem Niveau statt (wobei sie gern vergessen, wie viele Langweiler es auch schon bei Spielen der TOP-16 gab). Nach den letzten drei Wochen fühle ich mich bestätigt: Nicht nur weil sog. Nobodies die Gruppenphase überstanden haben, sondern vor allem aus einer politischen ‚europäischen Gesamtschau‘ (dabei ist mir schnuppe, was bei der UEFA die Beweggründe waren). Ich finde es schön, wenn sich mehr als die üblichen Verdächtigen auf dieser europäischen Turnier-Bühne präsentieren können. Ganz bewusst nicht nur mit Blick auf die Teams, sondern auf das Drumherum – die Fans, aber z.B. auch die internationale Medienberichterstattung. So etwas schafft auch immer etwas gesellschaftliches Bewusstsein. Ich stehe zu diesem ‚unfußballerischen‘ Aspekt: Gerade in Zeiten, in der zunehmend sehr unangenehme renationalisierende Winde wehen, ist mir ‚mehr Europa‘ (verstanden als: mehr trans-nationales Cometogether) ein angenehmes Signal. Der Rest ist dann Fußball und soll es auch sein.“

Und außerdem: Auch wenn es bei der Ausweitung des Turniers primär ums Geschäft und um Wählerstimmen für den Korrumpel Platini ging, stehen diese 24 Teams auch irgendwie gegen den Trend, den „großen“ Fußball immer stärker vom „kleinen“ zu entkoppeln.

(1) Der FC Internationale, heute eine renommierte Adresse im Berliner Amateurfußball, wurde 1980 u.a. von Leuten gegründet, die zuvor in der Uni-Liga unter dem Namen „Internationale Studenten“ gekickt hatten. Dem Berliner Fußballverband schwante zunächst Böses beim Namen „Internationale“. Das „e“ am Ende sollte gestrichen werden. Nach langem Hin und Her und Solidaritätsadressen von Prominenten (u.a. Rudi Völler) genehmigte der DFB schließlich den Namen, der heute bekannt und Programm ist. Unter dem Dach des Klubs kicken z.Zt. neun Senioren- und Altherrenteams sowie 35 Nachwuchsteams.

 

http://www.werkstatt-verlag.de/?q=node/786

Dietrich Schulze-Marmeling gilt seit Jahren als einer der besten deutschen Buchautoren in Sachen Fußballgeschichte. Im Verlag Die Werkstatt veröffentlichte er u.a. Bücher zur Fußballweltmeisterschaft sowie zu den Vereinen Bayern München und Borussia Dortmund. Sein Buch „Barça“ hat im Jahr 2010 bei der Wahl zum Fußballbuch des Jahres den dritten Platz belegt. „Der FC Bayern und seine Juden“ wurde ein Jahr später zum Fußballbuch des Jahres gewählt. Seine letzte Veröffentlichung: zusammen mit Hardy Grüne gab er 2015 „Das große Buch des deutschen Fußballs“ heraus.

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