Will man ihn haben oder lieber nicht haben? Das Objekt des Beitrages
Seit einigen Monaten hat den deutschen Fußball eine neue Mode heimgesucht: Das Spiel ohne den Ball, der freiwillige Verzicht auf seinen Besitz, die Fokussierung auf Reaktion anstatt Aktion.
Zweimal weniger als 50 Prozent geht nicht
Nun ist dies teilweise einfach der permanenten (und manchmal nervigen) Datenübermittlung geschuldet. Denn häufig ist ein Mehr an Ballbesitz auch einfach nur eine Folge von Überlegenheit. Sogar RB Leipzig, gefeiert als Meister im Spiel gegen den Ball und Anti-Ballbesitz-Team, kommt gelegentlich nicht um ein Mehr an Ballbesitz herum. Gegen Darmstadt 98 waren es 66 Prozent, gegen Ingolstadt sogar 70 Prozent. Gegen Darmstadt wurde gewonnen (2:0), in Ingolstadt kassierte RB seine erste Niederlage in der Bundesliga (0:1). Vielleicht lag es in diesen Fällen ja daran, dass beide Mannschaften den Ball nicht wollten. Und dass beide Mannschaften weniger als 50 Prozent Ballbesitz verbuchen, ist schlichtweg nicht möglich…
Bayern vs. RB: Strategieunterschiede im Brennglas
Das Aufeinandertreffen zwischen dem FC Bayern und RB Leipzig wurde zu einem Duell unterschiedlicher Philosophien ausgerufen. Hier die Bayern mit durchschnittlich 69 Prozent, dort der Aufsteiger mit nur 51 Prozent. (Was bedeutet, dass auch RB im Schnitt den Ball häufiger hat als der Gegner.) Die Bayern entschieden das Duell klar für sich. Die Ancelotti-Zöglinge gewannen nach 90 Minuten und 76 Prozent Ballbesitz mit 3:0.
Man muss die Bayern nicht mögen, aber ihr Sieg war auch ein Sieg für den Fußball. Hätte RB gewonnen, dann würden jetzt wahrscheinlich landauf und landab Jugendtrainer dem Nachwuchs nur noch das Spiel gegen den Ball und ohne Ball beibringen. Und ihn wieder auf die Laufbahn schicken, um sich die hierfür notwendige Kondition anzueignen.
Ein legitimes Mittel, aber kein Königsweg
Nun ist eine Spielweise, die primär auf Fehler und Ballverluste des Gegners reagiert, absolut legitim. Zumal dann, wenn man sich in der Position des Underdogs befindet. Und irgendwie wäre es ja auch langweilig, wenn alle denselben Stiefel spielen würden. Auch muss man so etwas trainieren. Auch beim Nachwuchs. Wie erzwinge ich Ballverluste, wie komme ich anschließend möglichst schnell vor das gegnerische Tor? (Wobei das schnelle Umschalten kein Privileg des Anti-Ballbesitz-Fußballs ist, wie vor allem das Beispiel des FC Barcelona unter Guardiola zeigt. Mit Ballbesitz wurde der Gegner mental müde gespielt. Und wenn er den Ball dann mal besaß, hatte diese Müdigkeit oftmals einen schnellen Ballverlust gegen ein danach sofort schnell umschaltendes Barça-Team zur Folge.) Aber hierauf in der Ausbildung den Fokus zu legen, wäre eine Katastrophe. Und es würde auch der Natur eines „echten Fußballers“ widersprechen, der immer den Ball haben will.
In einem Interview mit Österreichs Tageszeitung Der Standard brachte Bayer Leverkusens Julian Baumgartlinger die Problematik auf den Punkt: „Es ist bedenklich, wie sich das Spiel taktisch entwickelt. Nur mehr mit Fünferkette verteidigen, reaktiv sein. Das romantische Bild, ein Match zu leben, mit dem Ball dominant zu sein, will fast keiner mehr. Weil das Konstruktive schwieriger zu realisieren ist als das Destruktive.“
Und weil es romantischer (oder sagen wir: schöner) und schwieriger ist, sollte bei der Ausbildung immer das Konstruktive im Vordergrund stehen. Im Übrigen wird eine Gesamtschau aller Fußballspiele ergeben, dass das Team, das mehr Ballbesitz verbucht, häufiger den Platz als Sieger verlässt als das Anti-Ballbesitz-Team.