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Fußball

 

Congratulations Leicester

Foto: koharoon / Shutterstock.com

von Dietrich Schulze-Marmeling – Über das Himmelfahrtswochenende fahre ich mit drei Jugendmannschaften nach Manchester. Auf dem Rückweg zum Kontinent wollten wir noch ein Premier-League-Spiel mitnehmen. Entlang der Route kamen nur Aston Villa, Crystal Palace, West Ham und Leicester in Betracht.

Eine im Herbst 2015 gestellte Anfrage nach 76 Tickets wurde nur von Leicester City beantwortet. Man würde mein Anliegen mit Wohlwollen behandeln, aber eine Zusage für so viele Tickets sei zum augenblicklichen Zeitpunkt nicht möglich. Man müsse den Saisonverlauf abwarten. Vielleicht ginge es für die Mannschaft ja am vorletzten Spieltag bzw. im letzten Heimspiel noch um etwas. In der Saison 2014/15 sah Aufsteiger Leicester lange Zeit wie der Absteiger Nr. 1 aus. Leicester war nach 28 von 38 Spielen Tabellenletzter. Der Abstand zum rettenden Ufer betrug sieben Punkte. Zehn Spieltage später hatte Leicester sechs Punkte Vorsprung auf den ersten Abstiegsrang. Von den letzten neun Spielen hatte man sieben gewonnen. Vermutlich steckte meinem Kommunikationspartner dieses dramatische Saisonfinale in den Knochen. Vermutlich erwartete er erneut einen langen Abstiegskampf. Dachte ich wenigstens, weshalb ich freundlich zurückschrieb: „Alles klar! Melde mich noch einmal im Frühjahr. Bin mir aber sicher, dass Leicester am 37. Spieltag im gesicherten Mittelfeld steht – jenseits von Gut und Böse!“

Anfang des Jahres dämmerte es mir, dass das mit einer weiteren Anfrage keinen Sinn machen würde. Obwohl es nun für Leicester im Heimspiel gegen Everton tatsächlich um nichts mehr geht – nur komplett anders, als ich es erwartet hatte. Denn seit Montagabend ist das Team von Claudio Ranieri Meister.

Leicester City

Ja, es ist wunderschön, dass solche Geschichten, wie sie jetzt Leicester geschrieben hat, im durchkommerzialisierten Fußball noch möglich sind. Und das Ganze auch noch in der Premier League. Noch besser wäre es gewesen, Leicester hätte sein Meisterstück bereits am Sonntag bei Manchester United gebaut. Bei aller Liebe zu United: Ein Sieg beim Premier-League-Rekordmeister, bei jenem Klub, der lange Zeit am meisten von der Auflösung des alten League-Systems und der Einführung der Premier League profitiert hatte, und der in den letzten beiden Jahren mehr Geld für neue Spieler ausgegeben hat als Leicester City in den 132 Jahren seiner Existenz, wäre das i-Tüpfelchen auf dem Triumph gewesen.

Meister – ohne 50+1

Bei aller Liebe zur Fußball-Romantik: Leicesters Meisterschaft ist eine faustdicke Überraschung, aber kein wirklicher Gegenentwurf zur Realität der Premier League. Höchstens ein immanenter, der den anderen zeigt, dass sie mit mehr Geld schlechter arbeiten. Beispielweise Spieler holen, die zwar einen Namen (und einen Preis) haben, aber nicht ins System und zur Philosophie des Klubs passen, keine Teams entwickeln, Team Spirit vernachlässigen etc. Aber das kennt man ja auch aus der Bundesliga – siehe Mainz, Augsburg, Freiburg.

Allerdings werden Mainz, Augsburg und Freiburg wohl nie Meister werden. Dies hat auch mit der 50+1-Regel zu tun, die wir Fußballromantiker vehement verteidigen. Wie Manchester United, Manchester City, Arsenal, Chelsea, Liverpool befindet sich auch Leicester im Besitz eines ausländischen „Investors“. (Die Anführungszeichen haben ihren Grund, den ich ein anderes Mal erläutere.) Im Falle von Leicester ist es der thailändische Milliardär Vichai Srivaddhanaprabha, der im Mai 2014 bzw. nach dem Aufstieg in die Premier League verkündete, er würde 180 Mio. Pfund bereitstellen, um den Klub binnen der nächsten drei Jahre unter die „Top Five“ der Premier League zu führen. Leicesters Meisterschaft ist deshalb Wasser auf die Mühlen von Martin Kind und Co., die für die Beseitigung der 50+1-Regel im deutschen Fußball plädieren. Der Klub hat schwer in die Infrastruktur investiert, einschließlich Scouting, Ausbildung, Leistungsdiagnostik, medizinische Betreuung. Ranieri erzählt, ihm sei die Kinnlade heruntergeklappt, als man ihm die Arbeitsbedingungen in Leicester vorführte.

Die englische (Trainer-) Krankheit

Wie bei 17 der 20 Premier-League-Klubs ist auch bei Leicester der Trainer ein Ausländer. Nur eines der Teams auf den Plätzen 1 bis 10 wird wenigstens von einem Briten trainiert: Beim Zehntplatzierten Stoke City hat der Waliser Mark Hughes das Sagen.

Diese Situation ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass die Premier League eine Weltliga ist, in der England nur die Bühne und die historische Kulisse stellt. Das Defizit an qualifizierten einheimischen Trainern ist hausgemacht und ein historisches Erbe. Im Mutterland England wurden Trainer lange Zeit für überflüssig erachtet. In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts gab es für Trainer nur wenige bezahlte Stellen, weshalb viele von ihnen ihr Glück auf dem Kontinent versuchten. Die abwertende Haltung gegenüber dem Beruf des Fußballtrainers entsprang der arroganten Auffassung, dass England in Sachen Fußball eine angeborene und ewige Überlegenheit besitzen würde. Auf dem Kontinent musste man hingegen lernen und war sich dessen bewusst, weshalb sich moderne und ambitionierte Klubs um englische und schottische Übungsleiter geradezu rissen. Diese lehrten hier in der Regel nicht das englische „kick-and-rush“, sondern wirkten als Propagandisten des niveauvolleren schottischen Flachpass- und Kombinationsspiels. Der kontinentale Fußball hat englischen Entwicklungshelfern wie William Townley und vor allem Jimmy Hogan, die in ihrer Heimat kaum etwas zählten, viel zu verdanken. Hogan machte sich hier wie kaum ein anderer um die Verbreitung des präzisen Flach- und Kurzpassspiels verdient.

Der Italiener Claudio Ranieri wurde maßlos unterschätzt, befeuert durch sein Scheitern mit der griechischen Nationalelf in der EM-Qualifikation, die er allerdings nur vier Monate betreute. Unter seiner Regie gingen drei Quali-Spiele verloren, darunter ein peinliches 0:1 gegen die Färöer. Gegen Finnland reichte es wenigstens zu einem Remis. Aber was kann man in vier Monaten schon großartig bewirken? Zumal als Nationaltrainer, der die Mannschaft nur selten sieht. Dabei hatte Ranieri Chelsea bereits in die Champions League gebracht (2003), bevor Roman Abramowitsch den Klub übernahm und finanziell aufpäppelte. (Erst mit der Qualifikation zur Champions League wurde Chelsea für Abramowitsch interessant.)

In der folgenden Saison wurden 100 Mio. Pfund in Neueinkäufe investiert. Chelsea wurde Vizemeister, scheiterte aber im Halbfinale der Champions League an Monaco und Ranieri musste gehen. Sein Nachfolger wurde José Mourinho, aber auch „Mou“ konnte mit Chelsea nicht die Champions League gewinnen.

Bei seinen Engagements hatte Ranieri wiederholt die Grundlagen für den Erfolg seiner Nachfolger gelegt.

Seine Bilanz liest sich besser als die der englischen Haudegen Harry Redknapp, der sich schockiert gab, als Leicester Ranieri verpflichtete, und Sam Allardyce, der es für angemessen hielt, das „deutsche Weichei“ Jürgen Klopp zu belehren. Die Auslandserfahrung der beiden Herren beschränkt sich auf ein Engagement von Redknapp als Interimstrainer in Jordanien in diesem Jahr, und Allardyce trainierte Anfang der 1990er eine Saison den irischen FC Limerick.

Wie gut Ranieri nun wirklich ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Sein Fußball entspricht nicht meinem Ideal: Zwei relativ statisch agierende Innenverteidiger, die stur ihre Position halten, egal was auf den Flügeln passiert, wenig Ballbesitz etc. (Beim 3:1-Sieg über Manchester City waren es nur 35%. Ich kann nur hoffen, dass jetzt nicht wieder diese schräge „Ballbesitz kontra Anti-Ballbesitz“-Debatte ausbricht. Weder das eine noch das andere garantiert den Sieg. Und ein Spiel, in dem beide Mannschaften auf nur 35% Ballbesitz kommen, habe ich auch noch nicht gesehen. Wie soll der FC Bayern gegen Darmstadt 98 Anti-Ballbesitz-Fußball spielen?).

Geld schießt Tore?

Aber für diese Mannschaft und ihre Fähigkeiten war Ranieri der richtige Mann. Das allein zählt. Ranieri hat es verstanden, Spielern beizubringen, wie sie ihre Schwächen kompensieren können. Bzw. dafür sorgen können, dass nur ihre Stärken zum Vorschein kommen. Bestes Beispiel ist der 32-jährige Innenverteidiger Wes Morgan, dessen Langsamkeit und Unbeweglichkeit in der Saison zuvor die Mannschaft wiederholt in die Bredouille brachte. Morgan ist noch immer eine Schnecke, aber Ranieri hat seine Spielintelligenz und sein taktisches Verhalten stark verbessert, weshalb die Defizite des Jamaikaners nicht mehr ins Gewicht fallen. Außerdem hat Leicester eine kluge und (preiswerte) Verpflichtungspolitik betrieben. Riyad Mahrez kam 2014 vom französischen Zweitligisten Le Havre AC und kostete 400.000 Euro. Ebenfalls 2014 wurde N’Golo Kanté verpflichtet. Sein alter Arbeitgeber SM Caen strich vergleichsweise bescheidene 8 Mio. Euro ein. Im April 2016 wurde der Algerier von der Professional Footballer’s Association (PFA) zum Spieler des Jahres gewählt. Vor seinem Mannschaftskameraden Jamie Vardy, der 2012 für 1,24 Mio. Euro vom Fünftligisten Fleetwood Town gekommen war – da war Vardy schon 25. Robert Huth kam für 4,2 Mio. Euro von Stoke City, Christian Fuchs ablösefrei von Schalke 04. Für Keeper Kasper Schmeichel, der zwischenzeitlich in der 4. Liga gespielt hatte, waren 1,68 Mio. an Leeds United zu überweisen. Es ist kein Team, das große internationale Klasse versammelt. Der Marktwert des Kaders erfuhr während dieser Saison keinen gigantischen Anstieg. Den höchsten erzielt Mahrez mit 20 Mio. Euro, gefolgt von Vardy (12 Mio.) und Kanté (10 Mio.). Das Gros der Spieler ist für die Großen der Branche nach wie vor uninteressant. Sie funktionieren in diesem Team. Im Übrigen kennen wir diese Geschichte auch schon aus Deutschland. Auch hierzulande haben immer wieder Teams überrascht, die aus Spielern bestanden, für die andere Vereine keine Verwendung mehr hatten, die ihnen einfach entgangen waren oder denen man höheren Aufgaben nicht zugetraut hatte. Solche „Verlierer-Gemeinschaften“ können eine enorme Dynamik entwickeln, im Kollektiv wird jeder einzelne plötzlich besser.

So ist Robert Huth ein ganz wichtiger Mann für dieses Team und dessen Fußball. Deshalb muss Huth aber nicht in die Nationalmannschaft zurückkehren. Seine Qualitäten sind für Leicester wichtig. In der Nationalmannschaft oder beim FC Bayern sind andere Qualitäten gefragt. Leicester City ist einfach ein Beispiel für exzellentes Team-Building, das von einigen Großen der Branche vernachlässigt wurde. Wenn der Tresor prall gefüllt ist, neigt man vielleicht eher dazu, Probleme durch großen, aber nicht unbedingt durchdachten Kapitaleinsatz zu lösen. Es wächst die Ungeduld, und mit der Ungeduld die Gefahr personeller Fehlentscheidungen. Bei Leicester City hat einfach alles gepasst. Angefangen beim Trainer, der seine Spieler an der langen Leine hielt – was bei diesem Team das Beste war. Und wenn dann die anderen auch noch so viele Fehler machen …

PS: Als Mourinho 2009/10 mit Inter Mailand vor der von Ranieri trainierten Roma die Serie A gewann (mit zwei Punkten Vorsprung), denunzierte er seinen Kollegen als „Mann von gestern“. Nach dem 16. Spieltag der Premier-League-Saison 2015/16 wurde Mourinho beim FC Chelsea entlassen. Sein Team hatte bis dahin nur 15 Punkte geholt – 20 weniger als Ranieris Leicester, das zu diesem Zeitpunkt bereits an der Tabellenspitze thronte.

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