von Dietrich Schulze-Marmeling – Bei der EM in Frankreich war die irische Insel erstmals mit zwei Teams vertreten. Beide Teams, das der nordirischen Irish Football Association (IFA) und das der südirischen Football Association of Ireland (FAI), sind im Achtelfinale ausgeschieden – einen bzw. zwei Tage nach dem britischen EU-Referendum, bei dem eine Mehrheit für den „Brexit“ votierte.
In Nordirland stimmten 55,8% der Urnengänger für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland in der EU. Katholiken/Nationalisten machten mit großer Mehrheit ihr Kreuzchen bei „remain“, eine nicht ganz so große Mehrheit der Protestanten/Unionisten bei „leave“.
Der interessanteste Aspekt war die Spaltung im unionistischen/protestantischen Lager, wo nur die Democratic Unionist Party (DUP) für den „Brexit“ mobilisierte. Allerdings ist die DUP die stärkste Partei Nordirlands. Im nordirischen Parlament besetzt sie 38 der 108 Sitze und stellt mit Arlene Foster auch den First Minister. Es folgen Sinn Féin (28), früher auch als politischer Arm der IRA bezeichnet, Ulster Unionist Party (UUP, 16), Social Democratic and Labour Party (SDLP, 12) und Alliance Party (8).
Die Spaltung des protestantischen/unionistischen Lagers wurde auch beim Achtelfinalspiel der Nordiren gegen Wales evident. Der nordirische Anhang bestand zwar zu ca. 90% aus Protestanten, die aber in Richtung des walisischen Fan-Blocks skandierten: „We voted remain, we voted remain, we aren’t stupid, we voted remain.“ (In Wales hatte eine Mehrheit für den „Brexit“ gestimmt.)
Schottland, wo sich eine noch größere Mehrheit als in Nordirland für den Verbleib in der EU aussprach, droht nun mit einem neuen Referendum über schottische Unabhängigkeit. In Nordirland fordert die republikanische „Sinn Féin“-Partei ein Referendum über die innerirische Grenze. Dass dieses das von Sinn Féin gewünschte Ergebnis bringen würde, ist ziemlich unwahrscheinlich. Viele der Protestanten, die pro „remain“ gestimmt haben, bleiben trotzdem Unionisten. Die Union ist ihnen noch wichtiger als die EU. Eine Mehrheit für einen Austritt aus dem UK und eine Vereinigung mit der Republik Irland kommt nur dann zustande, wenn nicht nur alle Katholiken dafür stimmen, sondern auch noch ein Teil der Protestanten, und die Menschen, die sich keinem der beiden Lager zugehörig fühlen. (2011 ergab ein Zensus, dass sich immerhin 25% der Katholiken nicht primär als Iren sieht, sondern als Nordiren. Und 2013 ergab eine Umfrage der BBC, dass im Falle eines Referendums nur 21% der Nordiren für die Wiedervereinigung votieren würden. Es schien so, als hätte sich die große Mehrheit Katholiken im nordirischen Staat eingerichtet – trotz des starken Stimmenanteils von Sinn Féin. Viele wählen die Partei nicht als Verfechter eines irischen Einheitsstaats, sondern als besten Vertreter ihrer politischen, sozialen und kulturellen Interessen. Allerdings dürfte nun das „Brexit“-Resultat bei Nordirlands Katholiken den Ruf nach einer Wiedervereinigung lauter werden lassen.)
Aber selbst wenn alle Voraussetzungen erfüllt wären, wäre es immer noch eine fragile Mehrheit. Die Republik Irland dürfte wohl kaum Lust auf eine Vereinigung verspüren, wenn sie sich damit eine rebellische Minderheit von einigen Hunderttausend einhandeln würde. Die Mehrheit für eine irische Vereinigung müsste schon sehr eindeutig ausfallen und bis tief in die protestantische Bevölkerungsgruppe hineinreichen.
Magerkost auf dem Platz
Zurück zum Fußball. In spielerischer Hinsicht konnte keines der beiden irischen Teams überzeugen. Dies war auch nicht anders zu erwarten. Dies gilt insbesondere für das IFA-Team, das nur gegen eine komplett dysfunktionale Ukraine punkten konnte. Nordirland hatte in der Vorrunde den geringsten Ballbesitz (34%) und die schlechteste Passquote (68%). Die meisten der acht Teams, die nicht das Achtelfinale erreichten, wie z.B. Albanien und Rumänien, hatten fußballerisch mehr zu bieten. Dies gilt auch für die Ungarn, trotz der 0:4-Niederlage im Achtelfinale gegen Belgien. Hier konnte man auch noch ein halbes Jahrhundert nach der letzten WM-Teilnahme registrieren, dass das Land im technischen Umgang mit dem Ball eine Tradition besitzt.
Bei aller Begeisterung über die erste Teilnahme an einem großen Turnier seit 1986: Mit dem glorreichen nordirischen Team der Jahre 1982 bis 1986 hatte Michael O’Neills Elf wenig zu tun. Und dies gleich in zweierlei Hinsicht.
Erstens: Nordirland schickte das namenloseste Team nach Frankreich. Bei den WM-Turnieren 1982 und 1986 war das anders: Spieler wie Pat Jennings, Gerry Armstrong, Mal Donaghy, Norman Whiteside, Sammy McIlroy, Jimmy Nicholl und Kapitän Martin O’Neill (heute Trainer der Republik) waren feste Größen im englischen Ligafußball. Dass man solche Spieler heute kaum noch im Kader der IFA findet, ist der Globalisierung des englischen Ligafußballs – hier vor allem der Premier League – geschuldet und dem damit korrespondierenden Bedeutungsverlust irischer Spieler. Für das FAI-Team gestaltet sich die Situation nicht wesentlich anders: Bei der WM 1994, als die Republik das Viertelfinale erreichte, standen Spieler wie Ronnie Whelan (FC Liverpool), John Aldridge (Real Sociedad, vorher Liverpool), Kevin Moran (Sporting Gijon, vorher Manchester United), David O’Leary, Niall Quinn (beide Arsenal), Tony Cascarino (Aston Villa) und Paul McGrath (Manchester United) im Kader, der sich somit völlig anders las, als das Ensemble, das in Frankreich antrat.
Zweitens: Das nordirische Team der Jahre 1982 bis 1986 war deutlich „interkonfessioneller“. In Frankreich saßen die wenigen Katholiken meistens auf der Bank. Dies ist keine Kritik an Michael O’Neill, dem ersten katholischen Trainer der IFA-Auswahl seit 1962. Es war wohl mehr eine Frage der Qualität. Man kann nicht ausschließen, dass sich häufig nur solche katholischen Spieler für den Norden entscheiden, die in der FAI-Auswahl keine Chance haben. Die Mannschaft der Republik ist noch immer die stärkere, wie deren Kräftemessen mit den Schweden, Italienern und phasenweise auch den Franzosen dokumentieren.
Weltklasse auf den Rängen
Während auf dem Rasen eher Magerkost dominierte, waren die Fans der beiden Teams Spitzenklasse. Auch hatte sich das Verhältnis zwischen den Fans der Nord- und Südiren deutlich entspannt. Seit Anfang der 1990er war dies von Hass geprägt gewesen. Als es im November 1993 in der Qualifikation zur WM 1994 in den USA zum Duell zwischen Norden und Süden kam, wurde die FAI-Auswahl unter größten Sicherheitsvorkehrungen nach Belfast transportiert. Die Atmosphäre im Windsor Park war extrem aufgeladen. Die wenigen Fans der Republik fürchteten um ihre Unversehrtheit und gaben sich nicht zu erkennen. Die Schriftstellerin Marie Jones verarbeitete das Spiel in einem viel beachteten Ein-Mann-Theaterstück mit dem Titel „A Night in November“. Als die Republik dann am 18. Juni 1994 in den USA zum Auftakt gegen den späteren Vizeweltmeister Italien auflief, stürmten loyalistische Paramilitärs einen „katholischen“ Pub im nordirischen Dorf Loughinisland, dessen Gäste das Spiel am Fernsehen verfolgten, schossen wild im Raum herum und trafen dabei sechs Katholiken tödlich. Die Attacke ging als „World Cup massacre“ in die Annalen der nordirischen „Troubles“ ein.
In Frankreich wäre ein Aufeinandertreffen der beiden irischen Teams vermutlich friedlich und freundschaftlich verlaufen. Als die Republik gegen Schweden spielte, gedachten die Fans dem 24-jährigen Nordiren Darren Rodgers, der in Nizza tödlich verunglückt war, indem sie sich in der 24. Minute erhoben und „Stand up for the Ulsterman“ sangen. Eine beeindruckende Geste, die noch einige Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre.
Gesamtirisches Team?
Dass erstmals beide irischen Teams bei einem großen Turnier dabei waren, aber beide im Achtelfinale ausschieden, könnte die Diskussion über eine gesamtirische Elf befeuern – zumal vor dem Hintergrund der Brexit-Debatte.
Aus diesem Anlass sei an ein Spiel erinnert, das 43 Jahre zurückliegt und damals die Hoffnung auf eine gesamtirische Fußballzukunft nährte.
1970 bestritt eine Auswahl nordirischer und südirischer Spieler ein Benefizspiel gegen den FC Arsenal. George Best, Nordire, Protestant und zwei Jahre zuvor zum europäischen Fußballer des Jahres gekürt, nahm dies zum Anlass, eine gesamtirische Nationalelf zu fordern. „Ich habe mit einigen Spielern aus dem Süden gesprochen. Sie alle wollen ein gesamtirisches Team. Ich weiß, dass die nordirischen Spieler auch so denken.“
Best hatte ein Problem. Der bis heute beste irische Fußballer aller Zeiten, von dem Pelé später sogar behauptete, „er war besser als ich“, durfte auf der großen WM-Bühne nicht mitspielen. Auf sich allein gestellt war sein Norden zu schwach, um diese regelmäßig zu erklimmen. Gleiches galt auch für die Auswahl des Südens, deren Kopf der aus Dublin stammende katholische Leeds-United-Spieler John Giles war.
Der Traum von einer gesamtirischen Auswahl war nicht politisch motiviert. Es träumten Fußballprofis, die sich aus dem englischen Ligafußball kannten. Gute Fußballer möchten mit guten Fußballern spielen. Und gute Fußballer suchen und finden sich. Religion, Politik und Hautfarbe treten dabei in den Hintergrund. Im englischen Ligafußball spielte es keine Rolle, ob man aus Nordirland oder der Republik Irland kam und welcher Konfession man angehörte. Hier waren alle nur Iren.
Im Sommer 1972 nahm die Mannschaft der Republik Irland an einem Turnier in Brasilien teil, mit dem das Gastland den 150. Jahrestag seiner Unabhängigkeit feierte. Nach dem Turnier blieb Irlands Delegationsleiter Louis Kilcoyne noch einige Tage in Brasilien. Der Unternehmer, der einige Monate zuvor mit seinen Brüdern Paddy und Barton den Dubliner Traditionsklub Shamrock Rovers übernommen hatte, hatte Wind davon bekommen, dass die Seleçao für den Sommer 1973 eine elfwöchige Europatournee plante, um sich für die WM in Deutschland zu akklimatisieren. Damit zogen die Brasilianer Konsequenzen aus dem Debakel 1966 in England, wo sie von der europäischen Physis überrascht wurden und sich aus dem Turnier getreten fühlten.
Die Europatournee war aber auch ein Teil der Wahlkampfstrategie von Joao Havelange, der auf den FIFA-Thron strebte, auf dem aber noch der Engländer Sir Stanley Rous saß. Kilcoyne lungerte einen halben Tag vor dem Büro von Havelange, bis ihm eine Audienz gewährt wurde. Der Ire versprach Havelange bei der Präsidentenwahl die Stimme seines südirischen Verbands. Seine Bedingung: Die Seleçao soll auf ihrer Europatournee auch in Dublin Station machen – für ein Benefizspiel gegen eine gesamtirische Auswahl, also einen einigermaßen formidablen Gegner.
In Nordirland war die IFA strikt gegen das Unternehmen. In Belfast befürchtete man, dass das Projekt Appetit auf eine gesamtirische Nationalelf machen könnte. Eine solche war für die protestantischen/unionistischen Funktionäre nur unter einer Bedingung denkbar: Die FAI löst sich auf und der Süden kehrt zurück unter das Dach der IFA. Deren Präsident Harry Cavan, der auch Vize-Präsident der FIFA war, zog alle Register, um die Partie zu verhindern. Cavan befürchtete, das Spiel könnte ein Präzedenzfall werden.
„Shamrock Rovers XI“
Doch der umtriebige Kilcoyne fand einen Ausweg. Die gesamtirische Auswahl sollte mit dem Etikett „Shamrock Rovers XI“ auflaufen. Die Suche nach Spielern übergab er seinem Schwager John Giles, der unter den nordirischen Balltretern mit dem für Wolverhampton kickenden Belfaster Protestanten Derek Dougan einen enthusiastischen Mitstreiter fand. Als Vorsitzender der Spielervertretung Professional Footballers’s Association (PFA) verfügte Dougan bei seinen Kollegen über großen Einfluss. Er versprach Giles: „Wenn du Brasilien bekommst, kann ich dir versichern, dass sechs Spieler und ich selbst dabei sind.“
Kilcoynes Idee stieß bei den Profis auf offene Ohren. Die Aussicht, gegen Brasilien zu spielen, war viel zu verlockend, als dass man bereit war, sie irgendwelchen politischen Empfindlichkeiten zu opfern. Es wurde ein Spiel gegen den Strom der politischen Entwicklung. 1972 und 1973 waren die schlimmsten Jahre der nordirischen „Troubles“. In diesen beiden Jahren wurden über 700 Menschen getötet und über 7.000 verletzt. Allein im Juni 1973 zählte man 30 Tote. Vier davon am Sonntag, den 3. Juni, dem Tag des großen Spiels.
Gespielt wurde an der Dubliner Lansdowne Road, Heimat des gesamtirischen Rugby-Verbands IRFU. Von den 14 Spielern, die für Shamrock Rovers XI aufliefen, waren sechs Nordiren. Vier von ihnen waren Protestanten, die vor dem Anpfiff den republikanischen Gassenhauer „A Nation Once Again“ über sich ergehen lassen mussten – gespielt von der Saint Patrick’s Brass & Reed Band.
Die beiden nordirischen Katholiken waren die Torwartlegende Pat Jennings und Martin O’Neill. Best war in Dublin nicht dabei. Am 7. Mai war er mit einer lebensgefährlichen Thrombose ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Brasiliens Coach Mario Zagallo schickte gegen das gesamtirische Team seine stärkste Formation aufs Feld. Vor 34.000 Zuschauern unterlag die zusammengewürfelte gesamtirische Auswahl dem Weltmeister nach einer starken Vorstellung knapp mit 3:4. Für Derek Dougan wurde an diesem Tag an der Landsdowne Road bewiesen, „dass eine gesamtirische Mannschaft möglich war“.
Keine „wilden Spiele“ mehr
In den folgenden Jahren diskutierten IFA und FAI immer wieder die Möglichkeit einer gesamtirischen Nationalelf. Verbal zeigten sich beide Verbände aufgeschlossen, aber die jeweiligen Vorstellungen waren zu unterschiedlich. Nur in einer Sache war man sich einig: „Wilde Spiele“, wie das Spiele wie das vom 3. Juni 1973, durften nie wieder stattfinden.
George Best blieb bis zu seinem Tod im Dezember 2005 der prominenteste Befürworter einer gesamtirischen Auswahl: „Ich war immer davon überzeugt, dass die beiden irischen Verbände zusammenkommen und ein nationales Team bilden müssen. Jede Seite hatte immer einige überragende Individuen. Aber Politik und Geld haben niemals zugelassen, dass das passiert. Das irische Rugby-Team ist vereinigt, und sie haben über die Jahre fantastische Erfolge gehabt. Aber im Fußball haben die Mitläufer und Funktionäre beider Verbände zu viel Angst, dass sie auf ihre Geschenke verzichten müssen und ihren Status einbüßen. Als sie es 1973 mit einer gemeinsamen Mannschaft gegen Brasilien versuchten, war das Ergebnis so fantastisch, dass sie keinen Mut besaßen, den Versuch zu wiederholen. Sie befürchteten, die Leute würden darin eine dauerhafte Sache sehen. Ich denke, es war eine großartige Idee.“
PS: Ich will mit meinen Aussagen zur Qualität der nordirischen/südirischen Auftritte die Leistung der beiden Teams nicht schmälern. Was sie gespielt haben, war völlig legitim. Der Fußball bezieht seinen Reiz auch aus den unterschiedlichen Philosophien. Die „Großen“ müssen damit fertig werden, dass die „Kleinen“ nicht ihr Spiel spielen wollen. Berücksichtigt man die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, haben sich beide Teams gut verkauft. Und wer wie Nordirland in der Quali Gruppensieger wird und wie die Republik Irland aus den beiden Spielen gegen den Weltmeister Deutschland vier Punkte holt, hat sich die Teilnahme an der Endrunde vollauf verdient. Ich bin auch kein Gegner der Ausweitung des Turniers auf 24 Mannschaften, wodurch die Geschichte erst so richtig zu einer europäischen wurde. Ganz abgesehen davon, dass wir ansonsten vielleicht auf die großartigen Fans aus Irland, Nordirland, Island und Wales hätten verzichten müssen. Das Schönste an einem Turnier sind doch eigentlich die Vorrunden, wenn alle noch dabei sind und hoffen dürfen.