Von Kieran und Dietrich Schulze-Marmeling – Mit Deutschland ist die vielleicht taktisch und spielerisch überzeugendste Elf der EM 2016 im Halbfinale ausgeschieden. Der Ausfall von Gomez, Hummels und Khedira – und während des Halbfinals auch noch Boateng – war einfach zu viel. Hinzu kam eine höchst unglückliche Dramaturgie. Nach einer starken französischen Anfangsphase hatten die Deutschen das Spiel komplett dominiert, aber ohne ein Tor zu erzielen, was sicherlich eine Schwäche im deutschen Auftritt war. Ein Tor fiel stattdessen auf der Gegenseite – durch einen Strafstoß in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit, den Bastian Schweinsteiger mit einem Handspiel verursacht hatte. Wenn es um ein Handspiel geht, ist das Ärgerliche an manchen Strafstößen: Es liegt ihnen nicht einmal die Verhinderung einer Torchance zu Grunde. Wilfried Sprenger (Westfälische Nachrichten) brachte die Problematik solcher Entscheidungen auf den Punkt: „So musste man die Situation nicht ahnden, aber die Maßnahme war auch nicht falsch.“ Vielleicht sollte man die Strafstoßregel mal überdenken und verfeinern. Mit der Führung im Rücken war der Rest des Halbfinals für die Franzosen leichter, wenngleich die DFB-Elf auch in diesem Spiel über weite Strecken die bessere war. Aber Frankreich war auch kein unverdienter Sieger.
Großartige, neue taktische Erkenntnisse kann man bei einer EM nicht erwarten. Hierfür sind die Teams viel zu wenig eingespielt. Hinzu kommt, dass das Turnier am Ende einer extrem strapaziösen Saison stattfand. Thomas Müller hatte in dieser Spielzeit einschließlich des EM-Halbfinals 63 Einsätze absolviert, was man ihm anmerkte. Es mangelte an mentaler Frische. Als Spieler von Bayern München, das in der Champions League in der Regel das Halbfinale erreicht, und Teilnehmer der WMs 2010 und 2014 sowie EM 2012 absolviert Müller ein solches Pensum bereits seit Jahren. In den sieben Spielzeiten 2009/10 bis 2015/16 kam Müller auf 429 Pflichtspiele, macht 61,28 pro Saison. Nicht mitgezählt: die Touren nach Asien und in die USA, um deren Märkte zu erobern.
Strapaziöse Saison
Die Zeiten, in denen in der Saisonvorbereitung vorwiegend über die umliegenden Dörfer getingelt wurde, sind vorbei. Franz Beckenbauer spielte in 13 ½ Jahren (erste BL-Saison der Bayern bis Karriereende beim Hamburger SV) 679 Pflichtspiele bzw. 50,29 pro Spielzeit. Dabei muss man berücksichtigen, dass die Laufleistung eines Spielers seit Beckenbauers Tagen enorm zugenommen hat und das Spiel schneller und intensiver – also mental und physisch anstrengender – geworden ist. Ewald Lienen: „Unser Fußballbetrieb ist völlig aufgebauscht, die Spitzenspieler sind für mich völlig überlastet. (…) Es geht eben nicht, dass du 60 oder 70 Spiele auf hohem Niveau spielen kannst. Und noch mal und noch mal und noch mal…“ Nicht nur die Zahl der Spiele ist ein Problem, sondern auch die damit verbundenen Reisestrapazen (insbesondere Auswärtsspiele in der Champions League und mit der Nationalelf).
Im Vergleich mit Müller wirkte Jonas Hector körperlich und mental frisch – wohl auch, weil dem Kölner „Spätentwickler“ der europäische Fußball erspart blieb. Das Problem der Übermüdung von Spitzenspielern konnte man erstmals bei der WM 2002 beobachten, als ein überstrapaziertes französisches Star-Ensemble in den drei Vorrundenspielen kein Tor schoss und nur einen Punkt gewann. Das „starlose“ Südkorea rannte Portugal, Italien und Spanien nieder. Erst im Halbfinale war auch der Akku der Asiaten leer. Um den Verlust an Physis aufzufangen, mangelte es dem Team nun an Technik. Trotzdem lässt sich bei Turnieren beobachten, dass „Underdog“-Teams ihre spielerischen Mängel und das Fehlen individueller Qualität etwas dadurch kompensieren können, dass viele ihre Spieler weniger strapaziert in die Veranstaltung gehen – was ihrem lauffreudigen und kampflustigen Fußball entgegenkommt.
Wenn Löw jetzt vorgeworfen wird, er habe zu viele Spieler mitgenommen, die vor der WM verletzt und beim Start in die Vorbereitung noch nicht wirklich fit waren, folglich in der Endphase zu wenig Spielpraxis gesammelt hatten, sollte man bedenken, dass das 2014 nicht viel anders war. Khedira hatte sich ein halbes Jahr vor der WM einen Kreuzbandriss zugezogen. Erst am 11. Mai 2014 wirkte Khedira wieder in einem Punktspiel seines Arbeitgebers Real Madrid mit. Schweinsteiger hatte in der Endphase der Saison mit der Patellasehne zu kämpfen und verpasste dadurch das DFB-Pokalfinale gegen Borussia Dortmund. Khedira und Schweinsteiger waren nicht nur Stammkräfte im defensiven Mittelfeld, sondern auch Führungskräfte des Teams. Die Lazarettliste komplett machten Keeper Manuel Neuer sowie Kapitän Philipp Lahm, die sich im Pokalfinale verletzt hatten. Hinter Neuers WM-Einsatz stand einige Wochen ein Fragezeichen.
Damals ging Löws Strategie voll auf: Schweinsteiger war im ersten Spiel nicht dabei, im zweiten erst ab der 70. Minute, im dritten nur bis zu 70. Minute – und war später einer der Final-Helden. Auch Khedira wurde zunächst nicht voll belastet. Manchmal gewinnt man den Eindruck, als würden Spieler Zwangspausen in der Saison vor einem Turnier ganz guttun. Aktuelles Beispiel: Jerome Boateng, der in der Saison 2015/16 nur 17 Bundesliga- und sieben Champions-League-Spiele absolvierte. Christoph Metzelder gelang es immer wieder auf wundersame Weise, bei Testspielen verletzt zu fehlen, um dann bei Turnieren voll dabei zu sein. Er bestritt 47 Länderspiele, davon waren aber 28 Pflichtspiele (knapp 60 %) und 19 (ca. 40,5 %) WM- bzw. EM-Endrundenspiele. Wenn der Kopf weitgehend leer ist, bleiben nur noch die Beine. Es dominiert der letzte Rest an Physis. Für kreative Momente reichte es hingegen nicht mehr.
Abwartende Teams dominierten
Die EM ist keine Meisterschaft, sondern ein auf vier Wochen beschränktes Turnier, bei dem man sich lieber auf Gewohntes und Simples verlässt. Dass auch die vier besten Gruppendritten ins Achtelfinale durften, hat dies noch verstärkt. Die Folgen dieses Modus’ konnten wir erstmals bei der WM 1990 in Italien beobachten, einem schwachen und torarmen Turnier, bei dem in der Gruppe F von sechs Spielen fünf unentschieden endeten. Eines der Teams dieser Gruppe, Irland, erreichte mit vier Unentschieden plus einem Elfmeterschießen das Viertelfinale. Auch in Frankreich agierte man abwartend. Schließlich konnten schon drei Punkte ein Weiterkommen bedeuten. In Kombination mit den limitierten Teams bestimmte dies die Spielweise in der Vorrunde. EM-Finalist Portugal zog sieglos ins Achtelfinale ein – drei Remis reichten. Nordirland musste gegen Deutschland nur aufpassen, dass man nicht zu hoch verlor. „Man of the match“ war ein technisch höchstens durchschnittlicher Torwart.
Dass Portugal das Finale erreichte, mutet wie ein schlechter Witz an. Die Seleção verbuchte ihren ersten Sieg in der regulären Spielzeit erst im sechsten Spiel. Auch dies ist nicht neu, sondern passiert bei Turnieren, die eben keine Meisterschaften sind, immer wieder. Bei der WM 1990 kam Vize-Weltmeister Argentinien in sieben Spielen nur auf zwei Siege in der regulären Spielzeit. Sollte Portugal das Finale gegen Frankreich verlieren, hätten wir einen Vize-Europameister, der bei dieser EM genauso häufig in der regulären Spielzeit gewonnen hat wie Albanien, England, Slowakei, Nordirland, Irland, Türkei, Schweiz und Ungarn. Und weniger häufig als Frankreich, Deutschland, Wales, Polen, Kroatien, Spanien, Island, Italien und Belgien. Nur sechs Teams hätten noch weniger gewonnen (nämlich gar nicht) als Europas Nr. zwei.
Die Kleinen waren unbequem und manchmal schwer zu bezwingen, weil sie sich auf die Defensivarbeit konzentrierten, um dann bei Gelegenheit zu kontern. Ein derartiges Konzept lässt sich auch mit einer Nationalmannschaft einüben, weil wenig komplex. Auf dem Programm standen Kettenbildung, Mannorientierung, Strafraumverteidigung – also eher sehr konventionelles Verteidigen. Nicht aber Abwehrpressing und Balleroberung. Es wurde vornehmlich reagiert und kaum agiert. Einige standen nur tief und praktizierten Mannorientierung bis hin zur Bildung einer Sechser-Kette. Spannende Defensivkonzepte gab es kaum zu besichtigen. Natürlich schießt man solche Truppen nicht aus dem Stadion. (Mario Gomez: „Auffällig ist, dass es bei einer Endrunde nicht mehr diesen Gegner gibt, den man mit 5:0 aus dem Stadion schießt. Auch alle Außenseiter können diszipliniert verteidigen – und tun dies auch. Das erfordert Geduld bei den Favoriten.“) Aber die Chance auf ein eigenes Tor ist für diese Mannschaften komplett von Glück und Zufall abhängig. Das Konterspiel war nur bei wenigen der „Kleinen“ (Wales, Island) wirklich durchdacht.
Kaum Tore
Unser Eindruck wird auch durch die Statistik bestätigt. Mehr „Kleine“ im Turnier bedeutete nicht, dass auch mehr Tore (geschossen von den „Großen“) fielen. In den 36 Vorrundenspielen fielen 69 Tore – macht 1,9 pro Spiel. 2012, als nur 16 Mannschaften qualifiziert waren (und damit auch weniger „Kleine“ als 2016), wurden 2,5 pro Spiel erzielt. Die „torschwächste“ Gruppe war im Übrigen die der Deutschen: In den sechs Spielen fielen nur sieben Tore – also 1,16 pro Spiel. Deutschland wurde mit 3:0 Toren Gruppensieger, gefolgt von Polen (2:0).
Schwierig wurde es, wenn die „Kleinen“ das Spiel selber machen mussten. Das Achtelfinale Wales gegen Nordirland war deshalb auch die schlechteste Begegnung des Turniers. Gemessen am Potenzial der Spieler, die auf dem Platz standen, war Kroatien gegen Portugal allerdings noch grausamer. Modric, Rakitic, Perisic, Mandzukic, Srna, Ronaldo, Nani, Quaresma, Gomes und und und – und dann so ein Spiel.
Viel komplizierter und anspruchsvoller ist das Einüben von Strategien gegen massive Abwehrreihen. Dass Spanien von 2008 bis 2012 die internationalen Wettbewerbe dominierte, war auch der Tatsache geschuldet, dass ein Haufen Spieler vom FC Barcelona kam, der sich Woche für Woche – nicht nur in der heimischen Liga, sondern auch in der Champions League – mit tiefstehenden Gegnern auseinandersetzen musste. Und mit Pep Guardiola hatte Barça einen Trainer, der akribisch an dieser Herausforderung arbeitete. Xavi, Iniesta und Co. wussten, wie man den im Strafraum geparkten Bus auseinandermontierte.
Die aktuelle Situation erinnert ein bisschen an die 1960er, als in Amsterdam mit dem Totaalvoetbal die vielleicht bedeutendste taktische Revolution gestartet wurde. Auch damals war der Auslöser, dass sich das in der Regel hochüberlegene Ajax mit extrem defensiven Gegnern konfrontiert sah. Heute ist die Situation noch komplizierter, da sich das Verteidigen weiter verbessert hat. Auch aufgrund der weiter deutlich verbesserten Physis. In taktischer Hinsicht wurde bei der EM aber recht simpel verteidigt – Interessantes gab es hier vor allem bei Italien zu beobachten. Bis zum Finale fielen bei der EM 2016 2,14 Tore pro Spiel. 2012 waren es 2,45, 2008 2,62, 2004 2,48 und beim sehr starken Turnier 2000 2,86. Es müsste im Spiel Frankreich gegen Portugal schon mächtig rappeln, um sich solchen Werten auch nur anzunähern.
Taktische Flexibilität
Wenn die Physis weitgehend ausgereizt ist und die Abwehrreihen stehen, dann bleiben als Entwicklungspotenziale noch taktische Flexibilität *(Anmerkung siehe unten) , kognitive Handlungsschnelligkeit (die eine gute Technik voraussetzt) und die Suche nach neuen Wegen gegen tiefstehende Gegner. Hoffenheims Julian Nagelsmann auf die Frage, welche Entwicklungen es noch im Fußball geben kann: „Entwicklungen wird es eher im Offensivspiel geben. Dass viele Tore nach schnellem Umschalten fallen, kann man als Erfolgsformel erkennen und trainieren. Man kann es aber auch so interpretieren, dass man zu wenige Lösungen bei eigenem Ballbesitz hat. Umschaltspiel ist auch viel leichter zu trainieren. Aber Lösungen zu finden gerade gegen tiefstehende Teams, das wird die Aufgabe.“
Der entscheidende Unterschied zwischen Deutschland, Italien, Spanien einerseits und England, Portugal, Belgien andererseits war: Die ersten drei genannten Teams hatten eine Idee. Einen Plan A/B/C zu haben, wie man mit viel Ballbesitz gegen extrem tiefstehende Gegner operieren kann (Spanien hatte allerdings nur einen Plan A, weshalb man gegen Italien ausschied), erfordert taktisch extrem geschulte Spieler. Hinzu kommt individuelle Qualität, die es aber richtig einzusetzen gilt. Deutschland besaß den Vorteil vieler Spieler, die durch die Schulen Guardiolas und Tuchels gegangen waren: Neuer, Boateng, Kimmich, Hummels, Kroos, Müller, Götze, Schweinsteiger. Spieler, die gelernt hatten, eine solche Herausforderung mit Hilfe eines Plans zu bewältigen. Hinzu kamen Hochbegabte wie Özil, Draxler und intelligente Spieler wie Hector und Khedira.
Guardiola oder Tuchel denken sich jede Woche einen neuen, auf den Gegner bezogenen Plan aus, ohne die eigene Spielauffassung aus den Augen zu verlieren. Dies gilt natürlich auch für Löw. Wenn Löw „geht’s raus und spielt“ sagen würde, wie einst der „Kaiser“, würden die Boatengs, Neuers und Müllers sich schon melden. Aber Löw würde dies auch nie sagen. Löw ist ein extrem anspruchsvoller Trainer und wie Guardiola und Tuchel ständig auf der Suche nach neuen Wegen und mehr Flexibilität. Löw, Guardiola und Tuchel pflegen ähnliche Fußballphilosophien – was Löws Anspruch, dass die Mannschaft wie eine Vereinsmannschaft funktioniert (einschließlich taktischer Flexibilität), entgegen kommt.
Mehmet Scholl kritisierte nach dem Italien-Spiel, dass sich Löw dem Gegner angepasst habe. Für Julian Nagelsmann ist diese „Anpassung“ alles andere als eine Schwäche: „Wenn ich erfolgreich sein kann, wenn ich mich an den Gegner anpasse, mache ich das. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Selbst Pep Guardiola richtet sich nach dem Gegner aus, obwohl er mit die besten Spieler hat. Um eben seine Idee vom Fußball besser aufs Feld zu bekommen. Ich nutze die Gegnerorientierung, um unsere Spielidee durchzudrücken.“
Ballbesitz
Es wird manchmal so getan, als sei die Verweigerung des Ballbesitzes eine besonders clevere Taktik. Mehr Ballbesitz ist häufig nur Ausdruck von technischer und spielerischer Überlegenheit, der der Gegner dann ein Umschaltspiel bzw. Konterfußball aus der Tiefe entgegensetzt. Ein Spiel, bei dem beide Mannschaften weniger als 50% Ballbesitz verzeichneten, gab es bislang nicht. Wenn Island im Schnitt auf nur 35% Ballbesitz kam, dann auch deshalb, weil der Gegner im Umgang mit dem Ball überlegen war. Bzw. die Isländer kaum dazu in der Lage waren, den Ball mal in den eigenen Reihen zu halten, um ihr Spiel in Ruhe aufzubauen. Wales verbuchte 47% und lag damit auch hier vor den anderen „Kleinen“. (Gegen Portugal waren es sogar 56%, aber die Waliser scheiterten an der individuellen Klasse und Erfahrung von Ronaldo und Co.) Weniger Ballbesitz bedeutet häufig auch mehr Kraftaufwand. Technisch gute Teams machen das Spiel mit dem Ball schnell und lassen mehr den Ball als die Beine laufen – gemäß dem Cruyff’schen Motto: „Der Ball wird nicht müde.“ Wohl aber der Gegner, der tatenlos zuschauen muss, wie die Kugel vor seinen Augen hin- und hergepasst wird, ohne dass er an sie herankommt. Island-Coach Lars Lagerbäck hatte dies erkannt, als er sein Team vor dem Viertelfinale ermahnte, mehr Ruhepausen einzubauen und nach Ballgewinn „cooler“ zu werden.
Allerdings wird auch die Bedeutung des Ballbesitzes manchmal übertrieben. Denn Ballbesitz allein reicht nicht. Es kommt darauf an, was man damit anstellt. Die Idee ist wichtig. Bestimmten Mannschaften gibt man auch gerne mal den Ball, weil man weiß, dass sie keinen Plan haben. Sie verlieren den Ball wieder schnell, was die Möglichkeit zum blitzschnellen Angriff bietet, bei dem sich der Gegner taktisch und gedanklich noch im Ballbesitzmodus befindet. England wollte bei dieser EM anders spielen als früher. Beim Spiel England gegen Island verbuchten die „Three Lions“ 68% Ballbesitz. Natürlich hatte Island auch Glück. Aber England hatte eben auch Schwächen im Positionsspiel (fehlende Breite), und die Spieler waren mit der Idee des Ballbesitzes nicht vertraut (fehlende Geduld) und verstrickten sich daher in hektischen Einzel- und Verzweiflungsaktionen. Die Chancen, die sie hatten, waren vornehmlich Fernschüsse oder Wühlaktionen. Keine klaren Abschlüsse.
In der Hinsicht besaß Deutschland den Vorteil, dass die Spieler es gewöhnt waren, auf Lücken zu warten und einen Gegner zu entzerren. Nur weil man zweimal hinten herumspielen musste und sich noch kein Weg nach vorne ergab, verließ keiner seine Zone, um auf eigene Faust wie wild drauflos zu dribbeln (Englands Sturridge). Oder den Ball nicht bewegen, um im Stand darauf zu warten, das etwas passiert. Es ist sozusagen eine (Spiel)Kultur, der man sich annehmen muss. Das geht nicht von heute auf morgen.
Fazit
Unser Fazit der EM in Bezug auf Deutschland: Wer in sechs Spielen plus einer Verlängerung nur ein Tor aus dem Spiel heraus kassiert (und zwei durch Elfmeter, bei denen das vorausgegangene Handspiel keine echte Torchance verhinderte) und über weite Strecken das Spiel bestimmte, hat taktisch ziemlich viel richtig gemacht. Aber im direkten Vergleich mit Frankreich muss man auch konstatieren: Deutschland hat wahnsinnig tolle Kombinationsspieler, die sich gerne in den Halbräumen bewegen und wunderbaren Fußball spielen, aber sie ähneln sich zu sehr. Das erschwert das Spiel im letzten Drittel.
Wenn der Gegner tief und eng steht und die Deutschen das Spiel verlagern, sind die Außenverteidiger die Zielspieler, hochstehend und breit an den Linien (übrigens beides ausgebildete „Sechser“). Da fällt die Option des offensiven 1 gegen 1 schon mal weg. (Beispiel Bayern: Da stehen in diesem Moment Spieler wie Costa, Ribéry, Robben oder Coman an den Linien und die Außenverteidiger füllen stattdessen das Zentrum.) Bayern versucht immer, jeden deutschen Spieler, der ihren Ansprüchen gerecht werden kann, zu verpflichten. Dies verweist auf Defizite in der hiesigen Ausbildung. Mit deutschen Spielern sind beim Rekordmeister folgende Positionen und Spielertypen abgedeckt: Torwart: Neuer; Innenverteidigung: Boateng, Hummels, Badstuber; „Sechser“: Kimmich; Mittelfeld offensiv: Müller, Götze. Was fehlt sind Außenverteidiger (abgesehen von Lahm), Dribbler (vier Spieler, alle andere Nationalität), Stürmer. Daher geht der Trend beim DFB nun auch wieder dahin, mehr Spezialisten auszubilden (Außenverteidiger, Neuner, „1 gegen 1“-Spieler/Dribbler).
Der Fokus lag in den letzten Jahren extrem auf den Zentrumspositionen (und auf kurze Ballhaltezeiten, „one touch“-Fußball). Man betrachte mal, wen es da alles gibt: Weigl, Kimmich, Gündogan, Dahoud, Özil, Kroos, Can, Khedira, Schweinsteiger … Wenn man eine Sache fördert, weil man hier vorher Defizite hatte, werden andere Dinge vauch mal zu sehr vernachlässigt. Hansi Flick hatte dies bereits nach der WM 2014 erkannt: „Unser Eindruck war, dass viele Spieler das Gefühl hatten, dass das System ihre Fehler auffängt. Nach dem Motto: Wenn ich den Zweikampf verliere, kann ich mich auf den Mitspieler verlassen, der hinter mir steht und das Problem löst. Wir müssen wieder eine andere Einstellung fördern, nämlich: An mir kommst du mit dem Ball nicht vorbei! Teil unserer Spielphilosophie muss sein, dass die Spieler Spaß daran haben, sich Mann gegen Mann zu messen. Genauso in der Offensive. Sie müssen das Selbstbewusstsein entwickeln, Eins-gegen-Eins-Situationen anzustreben. Weil sie alle Möglichkeiten haben, vorbei zu gehen, weil sie ein großes Repertoire an Finten haben, weil sie über Geschwindigkeit und technische Qualitäten verfügen. Die Qualität der Mannschaft ist immer abhängig von der individuellen Qualität der Spieler.“ (Hervorhebung durch die Autoren)
Frankreichs Offensive hatte einfach mehr Stärken zu bieten und war deutlich vielseitiger: Griezmann (Vollstrecker), Giroud (Brecher), Payet (1 gegen 1 und Abschluss aus der zweiten Reihe), Coman (Geschwindigkeit, 1 gegen 1), Pogba (Technik, Wucht), Gignac (irgendwie von allem ein bisschen). Didier Deschamps konnte eine breitere Palette an Fähigkeiten auf allerhöchstem Niveau aufbieten. Das fehlte Deutschland, vor allem nach dem Ausfall von Gomez. Gomez wurde gegen Frankreich als Zielspieler vermisst. Sané ist ein ganz anderer Typ als die, die sonst gespielt haben. Seine Einwechslung hatte die Dynamiken im letzten Drittel auch direkt ein wenig verändert.
* Gemeint ist hier nicht nur ein Systemwechsel von Spiel zu Spiel, je nach Gegner, wie es Löw gegen Italien praktiziert hat, sondern auch während eines Spiels. Julian Nagelsmann: „Das ist für mich der Unterschied zwischen einem guten und einem sehr guten Trainer. Wenn er im Spiel unter größtem Erfolgs- und Zeitdruck reagieren kann und die Veränderung funktioniert. Vor dem Spiel einen Plan zu entwickeln ist einfach. Aber wenn es nicht funktioniert, schnell Stellschrauben zu finden, das Spiel lesen und in Lösungen zu übersetzen, das ist die Kunst.“