Mit ein paar Tagen Abstand blickt Dietrich Schulze-Marmeling auf die Europameisterschaft. Lesen Sie hier sein Fazit.
Zunächst zum Fußball
Die Qualität des Spiels war für ein Turnier von Nationalteams okay bis gut. Manchmal sogar sehr gut. Das für mich beste Spiel lieferten nicht die Italiener ab, sondern die Spanier. Gegen die Italiener.
Italien gewann das Turnier verdient, obwohl Mancinis Team nicht immer so überzeugend auftrat, wie es einige Lobeshymnen suggerierten. Niemand weiß, wie das Spiel gegen Österreich ohne Arnautovics hauchdünne Abseitsstellung ausgegangen wäre. Gegen Spanien war die Squadra Azurra das schlechtere Team, eine Niederlage wäre okay gewesen. Aber einen solchen Turnierverlauf hatten auch andere Turniersieger. Beispielsweise Deutschland bei der WM 2014.
Christoph Kramer freute sich, „dass der wahre Fußball, nämlich der Ballbesitzfußball, sich durchgesetzt hat. Obwohl es zumindest in Deutschland nach 2018 hieß, diese Zeit sei vorbei. Deshalb war ich großer Fan der Spanier bei diesem Turnier. Sie, aber auch die Italiener, haben gezeigt, dass Fußballspielen sich durchsetzt, auch wenn man nicht den besten Kader oder die besten Einzelspieler hat – das fand ich schön.“ Jupp Heynckes unterscheidet zwischen „Kombinationsfußball“ und „Ballbesitzfußball“. Heynckes im Interview mit dem Kicker: „Die Spanier praktizieren jetzt Kombinationsfußball – nicht Ballbesitzfußball, kein Ballgeschiebe. Das heißt, sie spielen vertikal, zielorientiert nach vorne oder pflegen das Dribbling über die Flügel, wie es Franck Ribéry und Arjen Robben einst taten.“
Dieser Kombinationsfußball ist aber trotzdem Ballbesitzfußball. Vermutlich sprach Heynckes von Kombinationsfußball, weil Ballbesitzfußball (bzw. was dafür gehalten wird …) seit der WM 2018 für einen Teil der Fußball-Community ein Schimpfwort ist und mit dem damaligen Ausscheiden der deutschen Nationalelf assoziiert wird. Sagen wir es so: Es gibt Ballbesitzfußball und Ballbesitzfußball.
Spanien hatte mehr Talent in seinen Reihen als Italien, aber noch nicht die Reife der Squadra Azurra. Ein Team mit Zukunft, das bei der WM 2022 eine sehr gute Rolle spielen könnte. Dies gilt auch für den jungen und auf einigen Positionen extrem talentierten Kader der Engländer.
Würde es nur nach dem Spielerpotenzial gehen, hätte in jedem großem Finale seit 1998 Frankreich oder Spanien gestanden. Tatsächlich waren es bei zwölf WM- oder EM-Turnieren im Zeitraum 1998 bis 2021 sieben.
Das DFB-Team
Deutschland gegen Portugal gehörte zu den attraktivsten Partien des Turniers, war aber nur eine Momentaufnahme. Für 90 Minuten erschien es so, als würde Jogi Löw mit seiner Dreierkette und den „Außen“ Joshua Kimmich und Robin Gosens richtig liegen. Löw hatte erstmals im Oktober 2018 mit der Dreierkette experimentiert – nach einer krachenden Niederlage gegen die Niederlande. Nicht, weil er sie so toll fand. Sondern mit Blick aufs Spielerpotential und zum Zwecke der Schadenbegrenzung. Heynckes: „Im deutschen Fußball ist es ein eklatantes Problem, dass wir keine Außenverteidiger mehr ausbilden – wie einst Breitner, Brehme oder Lahm, auch Vogts und Kaltz.“
Allerdings: Nun fehlte hinter Toni Kroos und Ilkay Gündogan zentral ein Kimmich, mit negativen Auswirkungen auf ihr Spiel. Wie Dettmar Cramer schon sagte: „Es hängt alles irgendwo zusammen. Sie können sich am Hintern ein Haar ausreißen, dann tränt das Auge.“ Und: Vermutlich wäre es besser gewesen, hätte Löw Mats Hummels und Thomas Müller nicht erst kurz vor dem Turnierstart eingebaut. So ging man mit einer Baustelle ins Turnier.
Auf Löws Nachfolger Hansi Flick wartet ein schwieriger Job. Denn Probleme gibt es nicht nur bei den Außenverteidigern. Heynckes: „Zudem haben wir keine Innenverteidiger mit Weltklasseformat und keinen Mittelstürmer mit internationaler Klasse.“ Und die „hochtalentierten Außenspieler Serge Gnabry, Leroy Sané und Timo Werner“ müssten „mehr anbieten“.
Wenn Oliver Bierhoff fordert, die DFB-Elf müsse im November/Dezember 2022 um den WM-Titel mitspielen, tut er Flick keinen Gefallen. Heynckes: „Katar sollte ein Zwischenziel sein, mehr nicht. Wichtiger ist, dass die Mannschaft erneuert wird. Deshalb muss der Kader 2022 nicht nur auf diese WM ausgerichtet werden, der Erneuerungsprozess einer jungen Mannschaft muss im Vordergrund stehen.“
Die Verlierer des Turniers
Neben Franzosen und Deutschen gehört leider auch ein bisschen der Fußball zu den Verlierern. Einen Imagegewinn konnte der Sport jedenfalls nicht verbuchen. Dank der UEFA, die rücksichtlos die Pandemie ignorierte und einzelne Austragungsorte erpresste, wobei ihr die Autokraten zur Seite standen. Wo bleibt der Aufstand demokratischer Politiker gegen die UEFA? Wer setzt den Verband mal auf den berühmten Topf? Deutschland könnte hier als Austragungsland der EM 2024 vorangehen. Aber vermutlich überwiegt die Angst, die UEFA zu stark vor den Kopf zu stoßen. Nur: Wo sind wir hingekommen, wenn dem tatsächlich so ist?
Die „Pandemie-Politik“ der UEFA war jedenfalls Wasser auf die Mühlen all derjenigen, die den Fußball für ignorant halten und für die das Spiel zu groß geworden ist. Viel zu groß. Man fühlt sich ein wenig in die 1980er zurückgeworfen, als es um das Image des Spiels ebenfalls schlecht bestellt war. Erinnerungen an diese düsteren Jahre weckte auch das Verhalten englischer und ungarischer Fans.
In München wurde beim Spiel Deutschland gegen Ungarn verhindert, dass die Arena in den Farben des Regenbogens erstrahlte – die UEFA wollte nicht den Partner Viktor Orbán düpieren, der dem Verband bei der Abwicklung der Champions-League-Saison geholfen hatte.
Die UEFA hat den europäischen Fußball an Staatsunternehmen aus autokratischen und totalitären Nicht-EU-Ländern verkauft. Zu den zwölf Hauptsponsoren der EM gehörten Qatar Airways (Katar), Gazprom (Russland), Alipay, TikTok, Vivo, Hisense (China). Qatar Airways war optisch extrem präsent. Gegen Ende des Turniers wurde bekannt, dass der DFB von der Lufthansa zu Qatar Airways wechseln möchte. Ein win-win-deal: Der DFB bekommt mehr Geld als vom deutschen Unternehmen, und den Ausrichtern der WM 2022 ist garantiert, dass sich der Verband in Sachen Menschen- und Arbeitsrechte zurückhalten wird. „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“
Das Ganze wird nicht ohne Auswirkungen auf die Diskussionen um die WM 2022 bleiben. Nach diesem Turnier dürfte auch dem letzten die Beschränktheit der „Menschenrechtspolitik“ der internationalen Verbände klar sein. Genauer: deren Funktion. Diese besteht in der Errichtung eines Sichtschutzes, hinter dem dann eifrig mit fragwürdigen Regimen und Geldgebern gekuschelt wird. Allerdings hat die UEFA diesen Sichtschutz selber niedergerissen. Menschenrechte? Nicht auf Kosten derjenigen, die diese verletzen!
Die Gewinner des Turniers
Gewinner waren ganz eindeutig die Spieler und Trainer, die den UEFA -Slogan „Respect!“ tatsächlich lebten. Im Gegensatz zu den UEFA-Funktionären. Auch und gerade untereinander. Dies begann mit dem lebensgefährlichen Zusammenbruch von Christian Eriksen – ein weiteres Thema, bei dem die UEFA eine traurige Rolle spielte. Spieler und Trainer begrenzten den Schaden, den die UEFA verursachte. Sie retteten das Turnier. Sie ließen uns den Glauben an das Gute im Spiel. Und dass das Spiel auch positive Werte vermitteln kann. Vielleicht sollten sie das Spiel übernehmen.
In der Vergangenheit galt: Politik hat im Fußball nichts zu suchen! Nein, nicht ganz: Politische Äußerungen blieben den Funktionären vorbehalten, die auch Politiker sein durften. Die Spieler sollten ihre Klappe halten, sich auf das Fußballspielen konzentrieren. (Die britische Tory-Politikerin Natalie Elphicke sieht dies noch immer so. In einer WhatsApp-Nachricht schrieb die Unterhausabgeordnete, Marcus Rashford hätte sich lieber auf den Fußball konzentrieren sollen, anstatt sich für kostenlose Schulmahlzeiten für finanziell schwache Familien einzusetzen. Elphicke hatte nicht verwunden, dass der 23-jährige Stürmer von Manchester United die Regierung in dieser Frage vor sich hergetrieben hatte – erfolgreich. Zuvor hatte sich Rashford bereits für Obdachlose engagiert.)
Ein DFB-Boss durfte die Militärdiktatur in Argentinien loben, aber „seine“ Spieler hatten sich von Amnesty International fern zu halten. Der FAZler Joachim Fest porträtierte den DFB-Vorsitzenden Hermann Neuberger als „ambitiösen Provinzkönig, dessen Gängelungsgelüste den Spielern noch vorschreibt, welche Socken und Pullover sie außerhalb des Spielfelds zu tragen haben.“ Und Neuberger ließ wissen: „Spieler sind zu ersetzen, Funktionäre nicht.“ Sein Idealbild vom Profi war das eines unmündigen Leibeigenen von Vereins- und Verbandsfunktionären, der gefälligst zu spuren hatte.
Diese Zeiten sind vorbei – und nicht erst seit der EM. Giorgio Chiellini, Marcus Rashford, Harry Kane und Co. sind nur schwer zu ersetzen, auf und außerhalb des Spielfelds – UEFA-Boss Aleksander Ceferin, der bis zum Finale abtauchte, DFB-Boss Rainer Koch und Co. sehr wohl. Auf sie kann der Fußball gut verzichten. Die Spieler äußern sich nun auch eigenständig und außerhalb offizieller Kampagnen der Verbände. Sie organisieren ihre eigenen Kampagnen. Diese äußerst spannende Entwicklung, die das Potenzial hat, die im internationalen Fußball herrschenden Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, gilt es weiter zu beobachten.
Im Falle der englischen Nationalmannschaft hat das dazu geführt, dass junge Spieler für die Regierung von Boris Johnson eine größere Herausforderung bedeuten als die Labour-Opposition. Nicht nur für die FA, auch für die Regierung ist diese Mannschaft ein Alptraum. In ihrer Kritik am Premierminister und seiner Innenministerin Priti Patel nehmen die Spieler kein Blatt vor den Mund und versetzen damit die Regierungspartei in helle Aufregung. Klügere Konservative mahnen ein Überdenken der Ablehnung des Kniefall-Protestes an. Ihnen dämmert, dass sie in der Auseinandersetzung mit den Männern (und Frauen) in kurzen Hosen den Kürzeren ziehen könnten. Alles, was sich die Regierung von diesem Turnier erhofft hat, ist nicht eingetreten. Es wurde nicht nur von den Italienern durchkreuzt, sondern auch von der eigenen Mannschaft, die sich nicht vereinnahmen ließ, sondern Widerspruch äußerte. Und last but not least von den rassistischen und chauvinistischen Geistern, die man selber mobilisiert hatte, u.a. indem man sich geweigert hatte, die Buh-Rufe und Pfiffe gegen den Kniefall-Protest zu verurteilen. Dem internationalen Ansehen des Landes hat die EM eher geschadet. Auch hier gilt: Spieler und Trainer haben noch gerettet, was zu retten war. Die Republik Irland ist nicht gerade dafür bekannt, dass ihre Bürger ein Herz für den großen Nachbarn haben. Die Geschichte steht hier im Wege. Trotzdem machte die Irish Times eine interessante Beobachtung: „Viele Leute, die das Finale der EM 2021 gesehen haben, werden dabei ungewohnte Gefühle erlebt haben – so etwas wie Bedauern oder Schuldgefühle über das Unglück eines Nachbarn. Es war nicht so, dass der durchschnittliche irische Fußballfan einen englischen Sieg wollte. Aber es fehlte die übliche Befriedigung oder das Gefühl von Schadenfreude, ihnen beim Verlieren zuzusehen. Zweifellos ist ein großer Teil davon auf die Sympathien für die junge Mannschaft und Gareth Southgate zurückzuführen."
Die WM 2018 war bereits stark politisiert. Die EM 2021 war es noch mehr. Und die WM 2022 findet in Katar statt. Abgesehen davon, dass die großen Turniere immer auch politische Projekte waren. Ihre fortschreitende Politisierung reflektiert nur die Entwicklung der Welt. Man sollte dies nicht bedauern, sondern sich ihr stellen. Der Fußball ist keine Insel.
Die Zukunft: Sie wird stürmisch. In jeder Beziehung. Das muss nicht schlecht sein. Im Gegenteil.