Wer gönnt es ihnen nicht? Dänemark steht im Halbfinale der EM 2021.Wenn es noch eines weiteren Beweises durfte, dass Fußballspiele auch im Kopf entschieden werden: die Dänen lieferten ihn. Dietrich Schulze-Marmeling über ein fußballverrücktes Land.
Das alles mutet etwas verrückt an und weckt Erinnerungen an den dänischen Sieg bei der EM 1992, als die Dänen als krasser Außenseiter und scheinbar gehandicapt ins Turnier gingen. Und es nach zwei Spielen ebenfalls so aussah, als sei man bereits ausgeschieden.
Der Zusammenbruch und Ausfall ihres prominentesten Akteurs, Christian Eriksen, hat die Dänen nicht geschwächt. Vielmehr haben sie aus dieser Geschichte Kraft gezogen. Was nur funktionieren konnte, weil Team und Trainer die schwierige Situation zu managen wussten.
Die Mannschaft wurde nun getragen von einer Welle der Solidarität. Und sie hatte nichts mehr zu verlieren. Niemand erwartete von den Dänen, dass sie unter diesen Umständen die Vorrunde überstehen würden. Die Auftaktniederlage gegen Finnland zählte gewissermaßen nicht. Die folgende gegen Belgien war ohnehin verzeihlich, schließlich war der Vorfall erst wenige Tage her und der Gegner einer der Turnierfavoriten. Ein fulminanter 4:1-Sieg über die Russen reichte dann zu Platz 2 und zum Einzug ins Achtelfinale. Mit nur drei Punkten auf Platz 2. Die anderen fünf Gruppenzweiten hatten einen bis drei Punkte mehr.
Eines der ältesten europäischen Fußballländer
Dänemarks Fußballgeschichte ist größer als das Land, findet aber in der Regel wenig Beachtung. Dänemark gehörte zu den ersten kontinentaleuropäischen Ländern, die das britische Association Game übernahmen. Dies war auch eine Folge der engen wirtschaftlichen Beziehungen zu Britannien. 1889 wurde in Kopenhagen mit der Dansk Boldspil Union (DBU) der erste nationale Fußballverband auf dem Kontinent gegründet.
Beim ersten offiziellen olympischen Fußballturnier 1908 in London triumphierte erwartungsgemäß Großbritannien. Dänemark gewann Silber. Im Halbfinale hatten die Dänen Frankreich mit 17:1 besiegt und eindrucksvoll bewiesen, dass sie auf dem Kontinent die Nummer eins waren. Trainiert wurden sie vom Engländer Charles Williams, einem ehemaligen Torhüter von Manchester City.
Einer der Leistungsträger des dänischen Teams hieß Harald Bohr und war der Bruder des späteren Nobelpreisträgers Nils Bohr. Harald wurde ein weltberühmter Mathematiker. Auch Nils trat gegen den Ball. Die Brüder spielten für den einst von Studenten gegründeten Akademisk Boldklub Kopenhagen. Europäisch war der Klub zuletzt in der Saison 1999/2000 vertreten.
Auch bei folgenden olympischen Turnieren war man recht erfolgreich: 1912 holte man Silber, 1948 Bronze, 1960 ein drittes Mal Silber. Nach dem Turnier 1948 wechselten drei Spieler in die Serie A: John Hansen und Karl Aage Præst wurden von Juventus Turin verpflichtet, Karl Aage Hansen von Atalanta Bergamo. In der dänischen Nationalelf durften sie nicht mehr mitspielen. Diese Regel, die erst 1976 abgeschafft wurde, war ein wesentlicher Grund, warum die Nationalmannschaft viele Jahre nicht mehr reüssierte. Gleichzeitig verführte die Silbermedaille von 1960 zu der Annahme, dass man im heimischen Fußball weiterhin dem Amateurismus frönen könnte.
Wer Profifußball spielen wollte, den zog es ins Ausland. Wovon nicht zuletzt die Bundesliga profitierte. Der Däne mit den meisten Bundesligaspielen ist bis heute Ole Bjørnmose, der 1966 von Odense BK zu Werder Bremen wechselte und für Werder und den Hamburger SV in 323 Bundesligaspielen auflief. Bis heute spielten über 130 Dänen in der Bundesliga.
Als Borussia Mönchengladbach 1970 erstmals deutscher Meister wurde, stürmte auf dem linken Flügel Ulrik le Fevre. 1975 gewannen die Gladbacher mit dem Uefa-Pokal ihre erste europäische Trophäe – auch dank der Dänen Henning Jensen und Allan Simonsen. Jensen wechselte 1976 zu Real Madrid. Simonsen 1979 zum FC Barcelona. 1977 war Simonsen der erste Däne, der zu Europas Fußballer des Jahres gewählt wurde. 1978 gab die DBU grünes Licht für die Einführung des Professionalismus.
„Danish Dynamite“
Die Nationalmannschaft machte erst in den 1980ern wieder auf sich aufmerksam. Architekt von „Danish Dynamite“ war der aus Breslau stammende langjährige Bremer Bundesligaspieler Josef Emanuel Hubertus – kurz „Sepp“ – Piontek. Vater Leo hatte noch für Polen gespielt, in 17 Länderspielen elf Tore geschossen und an der WM 1938 in Frankreich teilgenommen.
1979 wurde Sepp Piontek dänischer Nationaltrainer und blieb dies bis 1990. Als Spieler war Piontek ein knallharter Defensiver gewesen. „Danish Dynamite“ bedeutete aber herzerfrischender Offensivfußball, wie ihn in Europa zuletzt die Niederländer um Johan Cruyff gespielt hatten. Erleichtert wurde dieser Spielstil durch einen gegenüber Deutschland offeneren und weniger ergebnisfixierten Diskurs über Fußball. Piontek: „Man hat in Dänemark mehr Spielraum und ist nicht so abhängig vom Erfolg wie in Deutschland.“ Und noch etwas spielte Pionteks Fußballphilosophie in die Karten: Jeder Akteur war dazu in der Lage, Verantwortung zu übernehmen. Von klein an lernte man das in den dänischen Fußballvereinen. So war gewährleistet, dass jeder Spieler das Spiel in die Hand nehmen konnte, wodurch das Team eine gewisse Unberechenbarkeit bekam.
1984 war Dänemark erstmals bei einer EM-Endrunde dabei – in Frankreich. In der Qualifikation hatte man England vor 100.000 Zuschauern im Wembleystadion mit 1:0 bezwungen. Dieses Spiel gilt als Geburtsstunde eines großen Teams.
In Dänemark steckte der Professionalismus zwar noch immer in den Kinderschuhen. Aber Piontek verfügte trotzdem über Akteure von internationaler Klasse, die im Ausland ihren Job nachgingen: Morten Olsen (RSC Anderlecht, 1. FC Köln), Søren Lerby (Ajax Amsterdam, Bayern München, AS Monaco, PSV Eindhoven), Preben Elkjær Larsen (SC Lokeren, Hellas Verona), Jan Mølby (FC Liverpool), Jesper Olsen (Manchester United), last but not least Michael Laudrup (Juventus Turin, FC Barcelona). Bei der EM 1984 waren 14 von 22 Spielern Legionäre, sechs von ihnen in Belgien. Bei der WM 1986 waren es 15 von 22.
Bei ihrer EM-Premiere scheiterten die Dänen erst im Halbfinale, als Spanien im Elfmeterschießen die Oberhand behielt. Weitere Endrundenteilnahmen folgten: 1988, 1992, 1996, 2000, 2004, 2012 und nun 2021.
Bei der WM waren die Dänen erstmals 1986 in Mexiko dabei – mit der bis heute vielleicht besten dänischen Nationalelf. In der Vorrunde schlug man zunächst Schottland mit 1:0 und anschließend Uruguay mit 6:1. Gegen die „Urus“ traf Preben Elkjær Larsen gleich dreimal. Im Finale um den Gruppensieg wurde die DFB-Elf mit 2:0 bezwungen. Unterm Strich waren dies sechs von sechs möglichen Punkten und 9:1 Tore. Dänemark war damit in den Kreis der Titelaspiranten aufgestiegen. Im Achtelfinale traf man auf Spanien. „Danish Dynamite“ ging zunächst in Führung, aber am Ende zerfledderten die Iberer um den vierfachen Torschützen Emilio Butragueño eines der spielstärksten Teams dieses Turniers und gewannen mit 5:1. Pionteks Elf war Opfer ihres Hurra-Stils geworden.
Europameister
1992 wurde Dänemark Europameister, obwohl man sich zunächst gar nicht qualifiziert hatte. Und obwohl Dänemarks bester Mann nicht mitspielte: Michael Laudrup, Spielmacher des FC Barcelona. Johan Cruyffs „Dream Team“ hatte einige Wochen zuvor erstmals den Europapokal der Landesmeister gewonnen und Laudrup war zum besten ausländischen Spieler der Liga gewählt worden. Aber Laudrup hatte sich mit Nationaltrainer Richard Møller Nielsen überworfen.
In Schweden durften die Dänen mitspielen, weil die Uefa Jugoslawien vom Turnier ausschloss – zehn Tage vor dem Start. Die Jugoslawen hatten in Schweden bereits Quartier bezogen, das fast täglich von Demonstranten heimgesucht wurde, die Jugoslawien bzw. die groß-serbischen Kräfte in Belgrad für den Balkankrieg verantwortlich machten. In der Qualifikation hatte Dänemark hinter Jugoslawien mit einem Punkt Rückstand Platz zwei belegt
Zwölf der 20 dänischen Spieler, die nun ihren Urlaub abbrechen mussten, standen bei Vereinen der heimischen Superliga unter Vertrag, acht kickten im Ausland. Keeper Peter Schmeichel hütete auch den Kasten von Manchester United, Michael Laudrups jüngerer Bruder Brian spielte für den FC Bayern, Bent Christensen für Schalke 04 und Flemming Povlsen für Borussia Dortmund, Hendrik Andersen für den 1. FC Köln, Lars Olsen für Trabzonspor, John Sivebæck für AS Monaco, Johnny Mølby für den FC Nantes. Von den 26 Spielern, mit denen Dänemark die EM 2021 begann, spielen nur noch drei bei dänischen Klubs.
Noch heute wird gerne erzählt, der Europameister von 1992 sei völlig unvorbereitet ins Turnier gegangen und hätte sich hauptsächlich mit Burgern ernährt. Eine nette Geschichte, die aber so nicht strimmt.
Tatsächlich hatte Nationaltrainer Richard Møller Nielsen mit einem Nachrücken gerechnet und noch vorsorglich ein Vorbereitungsspiel gegen die Nationalmannschaft der GUS organisiert. 2012 erzählte der Trainer dem „Tagesspiegel“: „Seit März war bekannt, dass wir eventuell für Jugoslawien einspringen müssten. Ich sagte es zu niemandem, aber ich stellte mich seitdem auf jeden möglichen Gegner ein, und so waren wir am Ende perfekt vorbereitet.“ Burger habe man nur einmal gegessen.
Mit zwei Siegen zum Titel
Dänemark begann die Gruppenspiele mit einem torlosen Remis gegen England. Diesem folgte einer 0:1-Niederlage im skandinavischen Derby gegen Schweden. Nur ein Punkt aus den ersten beiden Spielen – viele Beobachter rechneten nun mit einem Ausscheiden der Dänen, aber im letzten Spiel wurde Frankreich mit 2:1 bezwungen. 3:3 Punkte und 2:2 Tore reichten zum Einzug ins Halbfinale.
Dort trafen die Dänen auf den Titelverteidiger Niederländer, der als klarer Favorit in die Partie ging. Im besten Spiel des Turniers stand es nach 120 Minuten 2:2. Der Elftal lag ein Elfmeterschießen schon damals nicht. Auf Seiten der Dänen patzte niemand, auf Seiten der Niederländer scheiterte Marco van Basten an Peter Schmeichel.
Im Finale besiegten Dänemark Deutschland mit 2.0. Die Tore schossen zwei Spieler aus der heimischen Liga: John Jensen, ein passionierter Biertrinker, der auf den Spitznamen „Faxe“ hörte, und Kim Vilfort, die beide für Brøndby IF spielten, dem damals mit Abstand professionellsten und modernsten dänischen Klub. Bester Däne war Keeper Peter Schmeichel.
Mit Dänemark hatte erstmals ein krasser Außenseiter das Turnier gewonnen – ohne das Elfmeterschießen gegen die Niederländer: mit zwei Siegen in fünf Spielen … Was „Danish Dynamite 1992“ von „Danish Dynamite 1986“ unterschied: Das Team von Møller Nielsen war nicht so angriffslustig wie das von Sepp Piontek, konnte dafür aber besser verteidigen.
„Danish Dynamite“ rettet den Fußball
Die internationale Presse überschüttete den neuen Champion mit Lob. Belgiens „Le Soir“ interpretierte den dänischen Sieg als „eine belebende Hymne an die Tapferkeit, an die bunte Mischung und die Einfachheit“. Der dänische Triumph habe „alle Theorien der Hexenmeister, der Berater in weißen Kitteln und der Trainer aus dem Laboratorium über den Haufen geworfen.“ Vom „Dänen-Wunder“ sprach der Schweizer „Blick“, während Spaniens „Diario 16“ den dänischen Europatitel mit dem Erringen des „Fußball-Nobelpreises“ gleichsetzte. Die „Göteborgs-Posten“ wähnte sich als Zeugen der „größten Sensation in der Fußballgeschichte“. In Dänemark schrieb „Politiken“: „Wir kamen durch die Küchentür, schnappten den Favoriten das Hauptgericht vor der Nase weg und verließen das Ullevi-Stadion auf dem roten Teppich.“ Michel Hidalgo, der Frankreich 1984um EM-Titel geführt hatte, empfahl die Dänen „als Beispiel für ganz Europa“, da sie „wahren und authentischen Fußball gespielt hätten“. Für Bundestrainer Berti Vogts waren die Dänen „toll anzusehen“, weil sie „alle taktischen Anweisungen über den Haufen gerannt“ hätten. Neben der sportlichen Niederlage musste Vogts auch noch eine politische mit nach Hause nehmen. Bei einem seiner peinlichen Ausflüge in die Politik hatte er dem Bundeskanzler und Gesinnungsfreund Helmut Kohl versprochen, die Dänen für ihr Nein zu den Maastrichter Europaverträgen zu bestrafen.
Und der Autor dieses Blogs? Der schrieb in seinem ersten Fußballbuch „Der gezähmte Fußball. Zur Geschichte eines subversiven Sports“: „Danish Dynamite rettet den Fußball. Der Sieg der Dänen war ein Sieg der inneren Widerstandskräfte des Fußballs, die die intellektuellen Skeptiker (den Autor mit eingeschlossen) immer wieder überraschen. Sollte der Ball, trotz aller Schleiferei, doch rund bleiben? All jenen, die meinten, der Erfolg sei wissenschaftlich herbeiführbar, und darüber vergaßen, dass ihr Perfektionismus die Kreativität des Spiels, Improvisationskunst und Spontanität tötet, erlitten eine herbe Niederlage. Denn es siegte ein Team, das ohne Vorbereitung in das Turnier ging, um dort umso fröhlicher und freier aufzuspielen. Keine Kasernierung, keine ständigen medizinischen Checks, keine strengen Ernährungspläne und Bio-Rhythmen. Der Fußballer ist kein Leichtathlet, und wer Fußball spielen kann, benötigt möglicherweise gar kein so umfangreiches Vorbereitungsprogramm.“
Wie so manches, was damals über den Dänen-Triumph geschrieben wurde, waren auch diese Zeilen arg übertrieben. Zu verstehen waren sie vor dem Hintergrund der damaligen Krise des Spiels. Die WM 1990 war ein schwaches Turnier gewesen. So schwach, dass sich die FIFA zu Regeländerungen genötigt sah.
Aber das EM-Finale 1992 hätte auch ganz anders ausgehen können. Mit einem Triumph für Berti Vogts „wissenschaftliche Herangehensweise“. Wie knapp es war, erzählte Peter Schmeichel kürzlich dem „Tagesspiegel“. Für Schmeichel war seine Parade gegen Klinsmann beim Stand von 0:0 „vielleicht die beste meiner Karriere. Ich wusste: Wenn Deutschland ein Tor macht, schießen sie uns ab. Das hätten wir nicht verkraftet. Wir hätten 0:6 verloren, davon bin ich überzeugt.“
Was die Dänen von damals mit den Dänen von heute gemeinsam haben: Teamspirit. Schmeichel: „So ein Spirit ist während eines Turniers Gold wert und kann die Kleinen sehr groß werden lassen.“