Die bisher größte Sensation der Fußballeuropameisterschaft ist das Ausscheiden von Weltmeister Frankreich im Achtelfinale - ein Blick auf den Überraschungssieger Schweiz und die Gründe für deren Erfolg: Die fußballerische Integration vieler Einwanderer und eine gute Ausbildung.
Nach dem Europameister Portugal ist nun auch der Weltmeister Frankreich aus dem Turnier geflogen. Gegen die Schweiz, die damit erstmals seit ihrer Rückkehr auf die internationale Bühne bei einem großen Turnier das Viertelfinale erreicht hat.
Die Schweizer Nationalelf („Nati“) war von 1934 bis 1966 Stammgast bei Fußballweltmeisterschaften – mit der Ausnahme des WM-Turniers 1958. Bei den Turnieren 1974, 1978, 1982, 1986 und 1990 war sie nicht dabei. Ebenso nicht bei den EM-Turnieren in diesem Zeitraum.
Erst bei der WM 1994 in den USA war die „Nati“ wieder am Start. Auch für die Turniere 2006, 2010, 2014 und 2018 konnte sich die Mannschaft qualifizieren. An den EM-Endrunden nahm sie 1996, 2004, 2008, 2016 und nun 2021 teil.
In der Vergangenheit war stets nach der Vorrunde oder dem Achtelfinale Schluss, nun erreichte die „Nati“ erstmals das Viertelfinale. Aber auch, wenn die Schweiz gegen Weltmeister Frankreich verloren hätte: Für ein Land mit ca. 8 Mio. Einwohnern, dessen Fußballverband nur gut 280.000 aktive Spieler und Spielerinnen zählt, eine beachtliche Bilanz. Zum Vergleich: In Deutschland kicken gut 3 Millionen.
Dass die Schweiz in den 1990ern wieder auf die internationale Bühne zurückkehrte, verdankte sie der Migration und einer guten Ausbildung.
Helvetische Kleinkrämer
Bei der WM 2018 kam es zum „Skandal“, als Granit Xhaka nach seinem Ausgleichstreffer gegen Serbien den gellend pfeifenden serbischen und russischen Fans den albanischen Doppeladler zeigte. Xhakas Vater saß Ende der 1980er im Kosovo im Gefängnis, nachdem er an Studentendemos teilgenommen hatte. Nach seiner Freilassung floh er mit seiner Familie in die Schweiz. Kurz vor dem Abpfiff der Partie gelang Xherdan Shaqiri der Siegtreffer für die „Nati“. Auch Shaqiri feierte mit dem Doppeladler. Der Schweizer TV-Kommentator rastete aus und fiel über die beiden Matchwinner her. Einige Kommentarschreiber forderten Xhaka und Shaqiri auf, bei der FIFA einen Nationenwechsel zu beantragen. Matthias Daum schrieb auf Zeit.online: „Es geht nurmehr um den Adlerjubel. Um die gekränkten helvetischen Kleinkrämerseelen, die nicht ertragen, dass in der durchtrainierten Brust eines Profifußballers für mehr Platz ist als lediglich ein pumpendes Herz mit Schweizer Kreuz.“
Die Schweizer Debatte hatte einiges mit der zeitgleichen deutschen um die Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan gemeinsam. Auch in der Schweiz entdeckte man, dass einige Spieler beim Abspielen der Hymne nicht ihre Lippen bewegten. Öl ins Feuer goss auch noch ein Spieler: Stephan Lichtsteiner unterschied zwischen „richtigen“ und „anderen“ Schweizern und behauptete, Spieler mit Migrationshintergrund könnten nicht als Identifikationsfiguren dienen.
Ein nicht unerheblicher Teil der Schweizer mag sich mit der migrationsgeprägten „Nati“ nicht anfreunden. Das ist keine Überraschung: Schließlich ist die rechtspopulistische SVP stärkste Partei im Nationalrat.
15 „Secondos“ sollt ihr sein…
Aber ohne Migration hätte sich die „Nati“ mit dem Weltmeister Frankreich gar nicht messen dürfen. Sie wäre bei dem Turnier nicht dabei gewesen.
Gegen Frankreich kamen neben Yann Sommer, Steven Zuber, Remo Freuler, Silvan Widmer, Nico Elvedi, Christian Fassnacht und Fabian Schär noch folgende Spieler zum Einsatz:
- Manuel Akanji: Sohn einer Schweizerin und eines Nigerianers. Geboren in der Schweiz.
- Ricardo Rodriguez: Besitzt einen spanischen, chilenischen und schweizer Pass. Spricht Deutsch, Spanisch, Englisch und Italienisch. Geboren in der Schweiz.
- Granit Xhaka: Sohn kosovo-albanischer Eltern. Geboren in der Schweiz. Bruder spielt für Albanien.
- Xherdan Shaquiri: Im damals noch zu Jugoslawien gehörigen Kosovo geboren.
- Breel Embolo: In Yaoundé, Hauptstadt von Kamerun, geboren.
- Harris Seferovic: Stammt aus Sanski Most, Bosnien und Herzegowina.
- Mario Gavranovic: Eltern stammen aus Bosnien-Herzegowina. Geboren in der Schweiz.
- Kevin Mbabu: Mutter stammt aus dem Kongo, Vater ist Franzose. Geboren in der Schweiz
- Admir Mehmedi: Geboren in Gostiva, heute Mazedonien. Spricht Deutsch, Italienisch, Albanisch, Englisch und Französisch.
- Ruben Vargas: Besitzt die Schweizer Staatsbürgerschaft wie die der Dominikanischen Republik. Geboren in der Schweiz.
Auf der Auswechselbank saßen noch:
- Yvon Mvogo: Geboren in Yaoundé, Hauptstadt von Kamerun.
- Loris Benito: Hat spanische Wurzeln. Geboren in der Schweiz.
- Edimilson Fernandes: Hat portugiesische und kapverdische Wurzeln. Geboren in der Schweiz.
- Dibril Sow: Mutter ist Schweizerin, Vater stammt aus dem Senegal. Geboren in der Schweiz.
- Denis Zakaria: Vater stammt aus der Demokratischen Republik Kongo, Mutter ist Sudanesin. Geboren in der Schweiz.
Macht unter dem Strich: Von den 23 Spielern des Kaders gegen die Franzosen hatten 15 einen sogenannten Migrationshintergrund.
Der Trainer der neun Sprachen
Bleibt noch der Trainer, Wladimir Petkovic. Dieser stammt aus Sarajevo, heute Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina. Petkovic besitzt sowohl die bosnische Staatsangehörigkeit als auch die kroatische Staatsbürgerschaft und das Schweizer Bürgerrecht. Der ehemalige Jura-Student und Sozialarbeiter spricht Kroatisch, Bosnisch, Serbokroatisch, Deutsch, Italienisch, Russisch, Französisch, Spanisch und Englisch.
Petkovic übernahm die „Nati“ 2014 von Ottmar Hitzfeld. Zwar spielte die Mannschaft unter ihm attraktiver, flexibler und erfolgreicher als unter Hitzfeld, aber „allein wegen seiner bosnisch-kroatischen Herkunft muss er sich vorwerfen lassen, Spieler mit Wurzeln auf dem Balkan zu bevorzugen“. So das österreichische Fußballmagazin ballesterer vor der WM 2018. Petkovic sah Rassismus am Werke: „Sicher stört es den einen oder anderen, wenn einer mit –ic Erfolg hat. Ich verlange nur dies: Man soll mich kennenlernen und sich über mich eine Meinung bilden.“
Das Erreichen des Viertelfinales ist für Petkovic auch eine persönliche Genugtuung. Das letzte Mal hatte die „Nati“ bei der WM 1954 das Viertelfinale eines großen Turniers erreicht – aber das waren noch andere Zeiten. Damals bestand die UEFA aus 24 nationalen Verbänden, heute sind es 55.
Integration, Ausbildung, Fußballkultur
Die Integration der „Secondos“, wie die Kinder der Einwanderer genannt wurden, stärkte den Schweizer Fußball nicht nur personell. Fast genauso wichtig war die Mentalität, um den sie diesen bereicherte. Die „Secondos“ professionalisierten die Schweizer Fußballmentalität, denn diese Kicker kamen u.a. aus Ex-Jugoslawien und der Türkei, aus Ländern, in denen der Fußball einen höheren Stellenwert besaß als in der Schweiz. Die Immigrantenkinder waren sehr leistungsorientiert und verfolgten konsequent das Berufsziel Profifußball.
Ähnlich wie in Belgien trugen auch in der Schweiz die Migrantenkinder zur Auflösung der fußballkulturellen Gegensätze zwischen zwei Bevölkerungsgruppen bei – zu Gunsten einer neuen bzw. dritten Identität. Bis dahin hatte die „Nati“ mal mehr „deutsch“, mal mehr „französisch“ gespielt.
Die Integration der „Secondos“ und die Reform der Ausbildung gingen Hand in Hand. Die neue, die Bevölkerungsgruppen übergreifende Spielkultur bestand in einem auf Angriff ausgerichteten Fußball mit kompaktem Stellungsspiel und Pressing. Die Nachwuchsförderung war sehr technisch und auf die Lust am Spiel ausgerichtet – was viele „Secondos“ entgegenkam. Dem Schweizer Spiel natürlich auch, denn so waren die „Secondos“ in der Lage, ihre Stärken einzubringen. Die deutlich geringere Zahl an Nachwuchskickern ermöglichte eine individuellere Betreuung als in Deutschland. Kleine Länder genießen in Sachen Ausbildung einen Vorteil. Erstens ist der diesbezügliche Druck größer. Um im Konzert der „Großen“ mitzumischen, muss man mehr tun als diese, innovativ und kreativ sein. Zweitens haben hier die Verbände einen besseren Zugriff auf die Vereine.
Schon Anfang der 1990er war die Schweiz in der technischen und taktischen Ausbildung weiter als Deutschland. Der legendäre Modernisierer Wolfgang Frank, u.a. Mentor von Jürgen Klopp, hatte zwei Quellen der Inspiration: Den Schweizer Fußball und Arrigo Sacchi. Frank verbrachte insgesamt neun Jahre in der Schweiz. Auch Jogi Löw profitierte von seiner Zeit in der Schweiz, wo er von 1989 bis 1995 spielte und anschließend seine Trainerkarriere beim FC Winterthur startete.