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Niederlage gegen Frankreich, Sieg gegen Portugal, Unentschieden gegen Ungarn: Die Gruppenphase hat die deutsche Nationalmannschaft gefordert, Diskussionen gab und gibt es trotz Weiterkommen viele.

Vorab: Bevor ich einen Trainer kritisiere, versuche ich zu ergründen, was er sich bei seinen Entscheidungen gedacht hat. Denn auch falschen Entscheidungen liegt manchmal eine richtige Überlegung zugrunde. Dass sie nicht aufgehen, kann verschiedene Gründe haben. Ein Grund: Das Spiel wird von Menschen gespielt.

Außerdem gehe ich davon aus, dass der Trainer vielleicht doch ein bisschen mehr weiß als ich. In seine Aufstellung sind möglicherweise auch Erkenntnisse aus dem Training eingegangen, aus Gesprächen mit Spielern, aus dem Austausch mit Experten. Und natürlich auch aus einer Beobachtung des Gegners, die vermutlich etwas anspruchsvoller ausfiel als meine. Als Trainer habe ich selber erlebt, wie schwierig es manchmal ist, die richtige Entscheidung zu treffen. Ich kenne die schlaflosen Nächte vor und nach einem Spiel.

 

Jogi Löw Jubel Ungarn Europameisterschaft
Im Jubel ist ihm die Erleichterung anzusehen: Jogi Löw nach dem 2:2 gegen Ungarn.

 

Auch versuche ich zu vermeiden, die Beurteilung des Spiels mit dem Ergebnis zu beginnen. Warum? Weil Fußball ein häufig ungerechter Sport ist und das Ergebnis nur ein Teil dessen wiedergibt, was in den 90 Minuten geschehen ist. In der Berichterstattung erschien Spaniens torloses Remis gegen Schweden als dürftige Angelegenheit. Es überwog die Kritik. Schließlich hatten die Ballbesitzfußballer kein Tor geschossen. Domènec Torrent, viele Jahre Taktik-Souffleur von Pep Guardiola, sah das Spiel anders. Ihm hatten die Spanier nicht nur beim 5:0-Sieg über die Slowakei gefallen, sondern auch schon gegen Schweden, wie er im sehr lesenswerten Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ vom 26. Juni 2021 erzählte: „Wir sind so sehr auf Resultate fixiert, dass wir keine tiefe Analyse dessen machen, was auf dem Platz passiert.“
 

Joshua Kimmich

Joshua Kimmich außen oder Kimmich zentral? Dreierkette oder Viererkette? Warum schickt Jogi Löw nicht Leroy Sané in die Schlacht?

Was in der Diskussion um Kimmichs korrekte Positionierung häufig vergessen wird: Klub und Nationalelf hatten ihn zunächst zum Nachfolger von Philipp Lahm als Rechtsverteidiger auserkoren. Auch mangels Alternativen. Domènec Torrent erinnert sich: „Er kann in einer Viererkette hinten spielen, das hat er bei uns bei Bayern mit Guardiola gemacht. (…) Aber wenn er auf der Außenbahn spielt, kommt auch ihm die Dreierkette entgegen, weil er vorwärtsgerichtet denkt. So wie auch der Spanier Jordi Alba oder der Niederländer Denzel Dumfries.“

Hier gibt es eine interessante Parallele mit Philipp Lahm: Noch heute ereifern sich einige darüber, dass Lahm die WM 2014 im defensiven zentralen Mittelfeld begann. Was aber Lahms Lieblingsposition war. Lahm wurde dort zunächst benötigt, da weder Sami Khedira noch Bastian Schweinsteiger bei Turnierbeginn fit waren. Was einigen ebenfalls entgangen war: Pep Guardiola hatte Lahm bereits als „Sechser“ eingesetzt. Beim FC Bayern hatte Lahm bewiesen, dass er alle Voraussetzungen für diese Position mitbrachte: Spielintelligenz, strategisches Geschick, sauberes Passspiel und Pressingresistenz. Wären Khedira und Schweinsteiger gemeinsam aufgelaufen, hätte im Verlauf der ersten Spiele eine Doppel-Auswechselung gedroht. Thomas Broich erklärte im Interview mit dem „Kicker“ (Ausgabe 50/2021), dass ein Trainer manchmal Spieler auch dort aufstellen muss, wo diese sich möglicherweise nicht wohlfühlen. Ein Trainer müsse primär Entscheidungen treffen, „die im mannschaftlichen Kontext Sinn ergeben“. Auch wenn Spieler wie Kimmich auf ihrer besseren Position geopfert werden? Broich: „Wenn dort immer noch genug Auswahl ist, ja.“

Was mag Löw also dazu bewogen haben, Kimmich auf die Außenposition zu setzen? Gegen Portugal sah man es: Nach dem Spiel waren sich alle einig, dass Kimmich nach Gosens Deutschlands Bester war.
 

Die Dreierkette

Womit wir zur Dreierkette kommen. Grob erklärt gibt es hier zwei Varianten: eine defensive und eine offensive. Die Defensive ist mehr eine Fünferkette. Die Außen werden mit Spielern besetzt, die eher Abwehrspieler sind und deren Qualität das Spiel gegen den Ball ist.

Ich habe die Herausforderung einer Dreierkette am eigenen Leibe erlebt und sie mit zwei Mannschaften gespielt. Zunächst mit einer, die extrem erfolgreich war. Einer der Außenspieler war defensiv sehr stark, der andere offensiv. Bei gegnerischem Ballbesitz wurde aus der Dreierkette häufiger eine Viererkette. Hinzu kamen ein sehr spielstarker Torwart, der wie ein Libero agierte und der den Außenspielern eine hohe Positionierung gestattete, und ein defensiver Mittelfeldspieler, der mit dem Zehner das „Schaukelprinzip“ Beckenbauer-Netzer kopierte. Die andere Mannschaft, die mit einer Dreierkette spielte, war deutlich schwächer und kassierte viel zu viele Gegentore. Sie konnte ein Spiel dominieren und trotzdem zwei, drei Gegentore kassieren. Die Außenspieler waren offensiv stark, auch dribbelstark, aber defensiv schwach, was zur Folge hatte, dass die hintere Reihe die gesamte Breite abdecken musste und in Zwei-gegen-eins- oder Eins-gegen-eins-Duelle verwickelt wurde. Der defensive Mittelfeldspieler war kein Abräumer und der Keeper klebte auf der Linie.

Löw praktizierte das 3-4-3-System erstmals im Oktober 2018, im Nations-League-Spiel gegen Frankreich. Als Konsequenz aus einem Mangel an erstklassigen Außenverteidigern. Möglicherweise nicht aus Überzeugung, sondern zum Zwecke der Schadensbegrenzung. Nach einem 0:3-Debakel gegen die Niederlande war die Begegnung mit dem Weltmeister zum Endspiel für den Bundestrainer ausgerufen worden.

Die Außenpositionen bekleideten damals Thilo Kehrer und Nico Schulz. Schulz war gelernter Linksverteidiger, Kehrer gelernter Innenverteidiger. Beide attackierten die französischen Außenverteidiger sehr früh, ließen aber im Ballbesitz Mängel erkennen. Beide spielen heute in den Überlegungen des Bundestrainers keine Rolle mehr. Löw fehlten damals nicht nur Außenverteidiger von internationaler Klasse, sondern auch geeignete „Schienenspieler“ für ein angriffsfreudiges 3-4-3-System.

Löw bevorzugt nun die offensive Variante, in der die Außenbahnspieler Mittelfeldspieler sind. Das Champions-League-Finale 2021 wirkte hier möglicherweise stilbildend: Thomas Tuchels Chelsea spielte mit drei Innenverteidigern und zwei hochstehenden „Schienenspielern“. Mit Mauern hatte das nichts zu tun. Thomas Broich: „Ich glaube, dass Chelseas Champions-League-Sieg total wichtig war, weil plötzlich ein großes Turnier mit so einer Formation gewonnen wurde. Bisher hieß es: ‚Große Mannschaften spielen mit Viererkette.‘“

Joshua Kimmich und Robin Gosens sind hier gewissermaßen die Idealbesetzung. Kimmich, weil er das Spiel gegen wie mit dem Ball beherrscht und auch mal in die Mitte ziehen kann. Und Gosens ist sehr offensiv ausgerichtet. Vermutlich liegt ihm die Außenposition mit drei Innenverteidigern im Rücken mehr als in der Viererkette.
 

Mangel an Flügelspielern

Das Problem ist also nicht, dass Kimmich außen spielt. Das Problem ist, dass Löw diesen Spieler nicht zweimal hat. Ilkay Gündogan und Toni Kroos haben andere Qualitäten. Keiner von ihnen ist ein „Sechser“. Gündogan spielt in der Nationalelf defensiver als bei Manchester City, wo er eine herausragende Saison gespielt hat. Was einen Qualitätsabfall zur Folge hat. Für das zentrale Mittelfeld wäre es besser, wenn Kimmich dort spielen würde. Aber wer spielt dann außen für Kimmich?

Das Problem ist, und es ist nicht neu: Einem Überangebot an Mittelfeldspielern steht ein Mangel an Flügelspielern gegenüber. Das konnten wir schon bei der EM 2016 beobachten. Bereits damals wurde deutlich, woran es dem deutschen Fußball fehlte. Und wo es in der Ausbildung haperte: Es fehlten Außenverteidiger, Eins-gegen-eins-Spezialisten. Der Fokus lag einige Jahre lang extrem auf den Zentrumspositionen und dem „One touch“-Fußball.

Dass einem Trainer nicht auf allen Positionen und für alle Systeme die optimale Besetzung zur Verfügung steht, ist nicht neu und führt immer wieder dazu, dass Spieler in einer Nationalelf Rollen übernehmen müssen, die nur ihre zweite oder dritte Wahl sind. Bei der WM 2014 musste Mesut Özil, eigentlich ein „Zehner“, auf die „Acht“ ausweichen. Für die „Zehn“ hatte Löw u.a. Toni Kroos. Mit einem gelernten Innenverteidiger (Benedikt Höwedes) hinter ihm, konnte Özil seine eigentlichen Stärken nur eingeschränkt ins Spiel bringen. Ohne die Unterstützung eines echten Außenverteidigers blieb ihm häufig nur die Aufgabe, den Ball zu halten.
 

Leroy Sané

Nach dem Spiel gegen Ungarn fielen viele über Leroy Sané her. Allen voran einige der Ehemaligen: Markus Babbel und – natürlich – Mehmet Scholl. Özil 2018, Sané 2021 – wenn’s nicht läuft, sucht das Fußballvolk nach einem Sündenbock. Das macht das Erklären leichter.

Zur Erinnerung: Nach der WM 2018 wurde Löw der Verzicht auf diesen Eins-gegen-eins-Spieler als schwerer, ja fast turnierentscheidender Fehler vorgeworfen. Ein Spieler wie Sané wurde gegen die tief stehenden und im letzten Drittel vielbeinig agierenden Gegner schmerzlich vermisst.

Gegen Ungarn ließ Löw den angeschlagenen Thomas Müller zunächst draußen. Ich hatte mir Leon Goretzka als „Ersatz“ gewünscht, aber der Bundestrainer hörte nicht auf mich und nominierte Sané. Eine Entscheidung, die für mich nachvollziehbar war. Warum? Siehe oben.

Löws Rechnung ging aber nicht auf. Gegen die Art, wie Ungarn verteidigt, war nicht nur Intelligenz und Kreativität gefordert, sondern auch individuelle Klasse. Von Sanés unbestreitbarer individueller Klasse war aber wenig zu sehen.

Sané wurde vorgehalten, er habe lustlos gespielt. Verbunden mit einer Kritik an seiner „Körpersprache“. „Lustlos“, das behaupten wir immer dann, wenn wir die Leistung eines Spielers nicht erklären können. Dass Sané lustlos in eine Partie ging, in der er (endlich) von Beginn an ran durfte, empfohlen von Gündogan, gefordert von einem Teil unserer Bundestrainer, ist ziemlich unwahrscheinlich.
 

Die Spiele: Frankreich (0:1)

Die DFB-Elf war bemüht, ihre Defizite aber offensichtlich. Frankreich war anzumerken, dass Trainer Didier Deschamps über eine extrem eingespielte Elf verfügt. (2018 hatte man den WM-Titel mit der zweitjüngsten Mannschaft des Turniers gewonnen.) Sie bewegte den Ball besser, wirkte weniger statisch (Positionswechsel) und hatte die besseren Angreifer. Angesichts des Potenzials, das Deschamps zur Verfügung steht, ist es aber immer etwas enttäuschend, wie defensiv man agiert. Das war schon 2018 so, als Deschamps seine „jungen Hunde“ nur selten von der Leine ließ. Frankreich spielte damals nicht am spektakulärsten, sondern einfach den besten Turnierfußball.

Kroos und Gündogan operierten ziemlich tief. Die Angst vor französischen Kontern war spürbar. Dass sie berechtigt war, zeigten die beiden wegen einer Abseitsstellung nicht gegebenen Treffer von Kylian Mbappé und Karim Benzema, Dass Deutschland häufig in Unterzahl angriff, hatte vermutlich nicht nur damit zu tun, dass Frankreich sehr tief stand, sondern auch mit Angst bzw. einem Mangel an Mut. Zunächst wollte man kein Gegentor kassieren, dann, nachdem es passiert war, keine frühzeitige Entscheidung oder gar Klatsche. Pässe in die französische Formation endeten häufig beim Gegner, weil der im Kopf schneller war (und manchmal auch technisch besser). Blieben nur noch Standards als Option. Und deren Ausführung war in der Regel schwach. Interessant: Bereits gegen Frankreich schnitten die Außenspieler Gosens und Kimmich in der medialen Benotung am besten ab.
 

Portugal (4:2)

Gegen den Europameister ließ Löw mit der gleichen Aufstellung wie gegen den Weltmeister spielen. Aber mit anderer Einstellung. Außerdem schob Löw das gesamte Konstrukt höher. Das betraf insbesondere die Außen Kimmich und Gosens, die nun mit dem Dreier-Angriff Müller-Gnabry-Havertz fast auf einer Linie operierten und so bei Begegnungen mit Portugals Viererkette Überzahl herstellten. Deutschland betrieb deutlich mehr Seitenwechsel als gegen Frankreich und zog damit Portugals Viererkette auseinander.

Gegen Frankreich wurde kritisiert, dass es Kimmich zu sehr in die Mitte dränge. Das sei ein untrügliches Indiz dafür, dass er nicht auf der Außenbahn spielen wolle. Aber Löw will solche „Außen“, die nicht einfach nur in Richtung Eckfahne laufen, um von dort Flanken zu schlagen, sondern auch mal nach innen ziehen, Flanken ergeben ja eigentlich nur Sinn, wenn man sich im Strafraum in Überzahl befindet. Jan-Christian Müller schrieb in der „Frankfurter Rundschau“ über die neue deutsche Flügelzange: „Was sie von ihren Vorgängern unterscheidet: Es reicht ihnen nicht, die Außenlinie entlang zu hetzen. Sie drängen auch nach innen. Zentrale Randfiguren, die selber Tore machen wollen.“

Kroos, den einige schon aus der Nationalmannschaft verabschiedet hatten, agierte als strategischer Kopf, steuerte das Spiel: Mit 104 verbuchte er die meisten Ballkontakte aller Akteure. Aber Kroos begnügte sich nicht mit Pässen, sondern räumte auch ab. Gündogans Vortrag war ordentlich, er agierte aber weiterhin tiefer als bei Manchester City und konnte deshalb seine Qualitäten nicht voll ausspielen. Das im defensiven Mittelfeld angesagte Abräumen (und Ball erobern) gehört nicht zu seinen Stärken.

Aber im deutschen Spiel war nicht alles super. Bei Kontern taten sich große Räume für den Gegner auf. Matthias Ginter spielte stark, Antonio Rüdiger musste einige Male seine Sprintstärke unter Beweis stellen und damit attestierte Jan-Christian Müller Löw in der "Berliner Zeitung" einen „taktischen Geniestreich“: „Wer ehrlich ist, müsste einräumen, dass er sich am Samstagabend mit der wohligen Aussicht vorm Fernseher eingerichtet hatte, den ewigen Jogi unsentimental mit der nächsten zu erwartenden Niederlage zu verabschieden. Die Messer waren nicht nur fürs Fleisch auf dem Grill gewetzt. Dreierkette? Blödsinn! Kimmich auf rechts außen? Unfug!“

Löws Plan ging voll auf, auch weil die Portugiesen ihm hierfür die Räume boten.

Später verglichen einige den Sieg über Portugal mit dem über die Schweden im zweiten Gruppenspiel der WM 2018, dem dann aber eine Niederlage gegen Südkorea folgte. Aber der Sieg über die Portugiesen war ein völlig anderer, hatte nichts Verkrampftes und Zwanghaftes. 2018 hätte man das nun folgende Spiel gegen die Ungarn verloren.

 

Jogi Löw Leon Goretzka Jubel Ungarn
Der Matchwinner und sein Trainer: Leon Goretzka und Jogi Löw nach dem Ungarn-Spiel.

 

Ungarn (2:2)

Es war das Spiel, das Löw prognostiziert hatte: „Die Ungarn können Gegner zur Verzweiflung bringen durch ihre zähe Defensivarbeit. Dieses Spiel wird nicht so offen sein wie gegen Portugal.“ Frankreich hatte gegen den vermeintlichen Underdog nur unentschieden gespielt und war zunächst sogar in Rückstand geraten. Portugal hatte Ungarn zwar mit 3:0 geschlagen, musste auf das erste Tor aber 84 Minuten warten.

Ungarn ging nach elf Minuten in Führung, weil Raumdeckung praktiziert wurde, als Manndeckung gefordert war, womit der Matchplan „Wir spielen den Gegner müde“ fast schon hinfällig war.

Was gegen Portugal super geklappt hatte, konnte gegen die Ungarn nicht klappen. Die Ungarn verteidigten mit einer Fünferkette, also breit, wodurch Gosens und Kimmich die Räume aus dem Portugal-Spiel fehlten. Gosens wurde dadurch und durch die tiefe Positionierung des Gegners offensiv komplett aus dem Spiel genommen. Er konnte nie einen Gegner mit Tempo und Wucht überlaufen. Und ein Dribbler ist er nicht. Die Deutschen kamen kaum mal hinter die Kette des Gegners. Kimmich blieb ebenfalls zunächst blass, bis er in die Mitte wechselte und Sané die Außenposition überließ. Wodurch dieser mehr Anlauf für Dribblings hatte – bzw. haben sollte.

Kimmich war anschließend sehr selbstkritisch – eine Stärke des Teams. Der Grund für die schwache Leistung sei eher im Spiel gegen den Ball zu suchen. In der Tat: Weil das Gegenpressing zu schwach war, gab es kaum mal eine Situation, in der das DFB-Team durch Balleroberung und blitzschnelles Umschalten Unordnung in die ungarische Ordnung bringen konnte.
 

„Die Mannschaft“ und die Politik

Gegen die Ungarn lastete auf der deutschen Mannschaft nicht nur der Druck des Weiterkommens. Es war auch ein politisches Spiel. Viele erwarteten nicht nur einen Sieg über elf ungarische Kicker, sondern auch über den ungarische Autokraten Viktor Orbán, dessen homophobe Politik, und die UEFA, die das Erleuchten der Münchner Allianz Arena in den Farben des Regenbogens untersagt hatte. In der Summe war ziemlich viel. In Russland 2018 war „Die Mannschaft“ auch an politischen Herausforderungen gescheitert. Im Vorfeld der WM waren die Umstände der Vergabe des Turniers und die politischen Verhältnisse in Russland ein ständiges Thema gewesen. Aber vor allem die „Erdogan-Affäre“ wurde zu einer starken Belastung und wirkte als Spaltpilz. Beim Turnier gesellten sich noch weitere Querelen hinzu.

2021 ist anders. Die Mannschaft beweist Haltung und hat einige richtig gute neue Typen. Allen voran Leon Goretzka und Robin Gosens. Wie sehr der politische Druck den sportlichen Druck im Spiel gegen Ungarn verstärkte, dokumentierten Goretzkas Demonstration in Richtung der ungarischen Rechtsradikalen und Manuel Neuers Spielen mit der Kapitänsbinde nach dem Abpfiff. Im „Kicker“ erklärte Neuer: „Es war in der Vergangenheit oft so, dass wir uns politisch nicht so positioniert haben und stattdessen den Richtlinien, wie es immer gewesen ist, gefolgt sind. Jetzt hat – auch dank der sozialen Medien – jeder Einzelne mehr Einfluss, etwas zu bewegen. Das hat sich in den letzten Jahren so entwickelt. (…) Wir möchten der Nationalmannschaft ein Gesicht geben und den Menschen zeigen, dass es außerhalb des Fußballs wichtige Dinge gibt, auf die wir hinweisen und hinter denen wir stehen.“ Neuer wollte auch nicht ausschließen, dass sich die Nationalelf dem Kniefall-Protest der englischen Auswahlspieler als Zeichen gegen Rassismus und für Solidarisierung mit der „Black Lives Matter“-Bewegung anschließen. „Wir sprechen in der Mannschaft darüber.“
 

Ein erstes Fazit

0:1, 4:2, 2:2. Drei gerechte Ergebnisse. Auch wenn im dritten Spiel die DFB-Elf nur wenige Minuten vom Ausscheiden trennte. Auch andere große Teams hatten Probleme: Das Achtelfinalspiel Italien gegen Österreich war für viele eine klare Sache. Auch für die Experten im ZDF-Studio konnte es nur einen Sieger geben. Als die Teams torlos die Seiten wechselten, war sich der von mir schwer geschätzte Christoph Kramer noch immer sicher: Italien wuppt das Spiel! Aber wie wäre es ausgegangen, hätte Marko Arnautovic bei seinem Tor nicht mit dem Knie im Abseits „gestanden“? Die nach der Vorrunde als bestes Team und Favorit auf den Turniersieg gefeierte Squadra Azzurra wäre möglicherweise ausgeschieden. Wir hätten plötzlich Schwächen im Team entdeckt und Mancinis Taktik hinterfragt. Es gibt Momente, in denen man sich fragt, ob man nicht vieles, was wir über Fußball schreiben, grundsätzlich in Frage stellen müsste. Das ginge allerdings auf Kosten der Geschäftsgrundlage unseres Tuns.

Der „Kicker“ schreibt über die DFB-Elf: „Die Mannschaft ging als Baustelle ins Turnier, und sie ist immer noch eine Baustelle.“ So ist es. Und vielleicht kann es auch gar nicht anders sein.

Das Dilemma eines Nationaltrainers: Er spielt ein Turnier. Und wenn das zu Ende ist, besteht wenig Zeit, einen Neuaufbau zu betreiben und personell zu experimentieren. Denn nur wenige Monate später steht schon das nächste Pflichtspiel auf dem Programm: die Qualifikation für das nächste Turnier in knapp zwei Jahren. Die natürlich gelingen muss. Nach der verkorksten WM 2018 war die Situation noch schwieriger, denn mit der Nations League kam ein weiterer Wettbewerb hinzu – auf Kosten von Testspielen. Nun hätte man sagen können: „Vergessen wir diese überflüssige Geschichte, schenken wir sie weg! Das sind Testspiele für einen personellen Neuaufbau, die Resultate sind zweitrangig.“ Das war aber nicht möglich. Löws WM-Titel-Bonus war aufgebraucht. Löw musste Ergebnisse liefern.

Entsprechend gestaltete sich seine Personalpolitik. Zunächst zögerte er mit einem radikalen Umbruch – wohl auch wegen der notwendigen Ergebnisse. Dann forcierte er ihn, u.a. mit der Verabschiedung der Weltmeister Müller, Hummels und Boateng. Mit Blick auf die WM 2022 war das verständlich. Müller hatte eine ganz schwache WM gespielt, reüssierte auch beim Klub nicht mehr – bis Hansi Flick übernahm. Boateng stand auch beim FC Bayern auf der Abschussliste – bis Hansi Flick übernahm. Und Hummels schien sich ebenfalls auf dem absteigenden Ast zu befinden. Aber das neue Ensemble funktionierte nicht. Und pandemiebedingt fand acht Monate kein Länderspiel statt.

Beim großen Umbau nach der EM 2008 bestritt die DFB-Elf bis zur WM 2010 zwölf Test- und zehn Pflichtspiele. Zwischen der WM 2018 und der EM 2021 waren es acht Testspiele und 21 Pflichtspiele. Und die ersten vier Pflichtspiele waren gegen Weltmeister Frankreich und den späteren Nations-League-Vize Niederlande. Auch für die Truppe, mit der Löw in die EM ging, gilt: Man würde mit ihr gerne ein vierwöchiges Trainingslager bestreiten. Fünf, sechs Testspiele inklusive.

Hummels und Müller wurden zurückgeholt, als klar war, dass Löw nach der EM aufhören würde. Der Bundestrainer musste nicht mehr über das Turnier hinaus denken.

Was hätte Löw anders machen können? Er hätte, wie Karlheinz Wild im „Kicker“ anmerkt, Hummels und Müller schon für die drei Partien im März reaktivieren können. Man hatte den Eindruck, als verfolge der Bundestrainer eine Doppelstrategie. Es gab eine Elf für die WM-Qualifikation und eine für die EM.

Vor dem Start in das Turnier erzählten mir acht von zehn Gesprächspartnern: „Die fliegen schon der Vorrunde raus. Frankreich und Portugal – beide eine Nummer zu groß.“ Jetzt heißt die nächste Aufgabe England. Wie ich gegen die Engländer spielen würde? Müller für Sané. Nicht weil ich glaube, dass Sané der Hauptverantwortliche für das schwache Spiel gegen die Ungarn war. Aber wird er mit dem Druck klarkommen? Außerdem Goretzka für Gündogan. Obwohl Gündogan ein überragender Spieler ist. Und wenn England tatsächlich mit einer Dreierkette spielt, um Deutschlands „Schienenspieler“ zu stoppen: Vielleicht von 3-4-2-1 auf 3-4-1-2 wechseln. Aber Löw wird auf mich nicht hören. Könnte sein, dass er es besser weiß.

 

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