(Kein) Fußball in Corona-Zeiten (6)
Am Abend des 11. März bestreitet Liverpool im Achtelfinale der Champions League sein Rückspiel gegen Atlético Madrid. Jürgen Klopp ist dabei mulmig zumute: „Am Samstag haben wir in Bournemouth gespielt und gewonnen, dann hat Manchester City am Sonntag verloren, also war unsere Information: noch zwei Siege bis zum Meistertitel. Aber dann bin ich am Montagmorgen aufgewacht und habe von der Lage in Madrid gehört, dass sie ab Mittwoch die Schulen und Unis schließen.“
Sein Everton-Kollege Carlo Ancelotti berichtet später dem Corriere dello Sport, Klopp wäre dagegen gewesen, dass Spiel ohne Einschränkungen stattfinden zu lassen. „Er sagte mir, dass es ein Verbrechen sei, das Spiel unter diesen Bedingungen zu spielen. Ich denke, er hatte Recht.“ Matthew Ashton, Director of Public Health des Stadtrats von Liverpool, sieht dies heute ebenso. Und auch Madrids Bürgermeister José Luis Martinez-Almeida meint, es sei ein Fehler gewesen, das Spiel vor Publikum auszutragen.
Denn mit Atlético reisen 3.000 Fans nach Liverpool. 3.000 Fans aus einer Stadt, in der der Covid-19-Virus bereits heftig sein Unwesen treibt und über die der Lockdown verhängt wurde. Die spanische Liga verordnet am Tag der Begegnung in Anfield, dass nur noch hinter verschlossenen Türen gespielt wird.
Ein Spiel als Virenschleuder?
Aber in England ticken die Uhren anders. Premierminister Boris Johnson feiert noch den Brexit und schwänzt die ersten Sitzungen seines Corona-Krisenstabs. Die Regierung setzt auf das zynische Projekt einer schnellen „Durchseuchung“. Angesichts der viel zu geringen Zahl von Intensivbetten und des Zustands des kaputt gesparten National Health Service (NHS) komplett unverantwortlich. Johnson schüttelt fleißig Hände und spielt die Gefahr einer Pandemie herunter. Die Regierung sieht keine Notwendigkeit für Einschränkungen. Vom 10. bis 13. März vergnügen sich 250.000 Menschen auf dem Cheltenham Festival. Die Organisatoren der Pferderennen rechtfertigen dies später mit Johnsons Besuch eines internationalen Rugby-Spiels. Auch die UEFA macht keinerlei Anstalten, das Spiel in Anfield vom Programm zu nehmen oder ohne Zuschauer auszutragen. Erst einen Tag nach der Begegnung in Anfield wird die britische Regierung ihren Kurs ändern – widerwillig.
Die Partie Liverpool gegen Atlético wirkte möglicherweise als Virenschleuder. Am 11. März gab es in Liverpool sechs registrierte Covid-19-Infizierte. Einen guten Monat später, am 20. April, zählt man in Liverpool 246 Corona-Tote.
„Geschieht es wirklich?“
Am 29. Dezember 2019 empfing der FC Liverpool bei seinem 19. Auftritt in der Premier League den Manchester-City-Bezwinger Wolverhampton. In der 42. Minute erzielte Sadio Mané die Führung für die „Reds“. In der dritten Minute der Nachspielzeit der ersten Halbzeit gelingt Pedro Note der Ausgleich für die Gäste – aber der Treffer hält der Überprüfung durch den VAR nicht stand. In der zweiten Halbzeit sind dem frischgebackenen Klub-Weltmeister die Strapazen der letzten Wochen und Monate deutlich anzumerken. Aber die „Reds“ bringen die knappe Führung über die Zeit.
Redmen Family Germany ist nach eigenem Bekunden die größte unabhängige Community von Liverpool-Fans in Deutschland, Dänemark, Österreich, Schweiz und Liechtenstein. Nach dem Sieg über die „Wolves“ schreibt ein Fan auf der Facebook-Seite der Community: „Geschieht es wirklich? Sehen wir ernsthaft eine der besten Liverpool-Mannschaften der Geschichte, die im Frühling 30 Jahren Schmerz ein Ende bereiten könnte? ‚Wahrscheinlich‘ ist wohl das passendste Adjektiv, um unsere Chancen zu beschreiben. Es wird Zeit, den Ballast der vergangenen Beinahe-Meisterschaften abzulegen und die Reise zu genießen. Hier und jetzt ist das keine banale Floskel mehr, sondern die größte Gelegenheit, die sich uns jemals geboten hat und bieten wird.“
Dieses Mal verhielten sich die Fans „ruhiger als in der Vergangenheit“. Die Fans hätten schon „viel mitgemacht“ und dabei gelernt, „mit der Euphorie umzugehen. Sobald der Kop 2014 die ersten Knospen sprießen sah, wurde er ekstatisch und konnte sich nicht mehr kontrollieren.“ In der Saison 2018/19 sei „die Endphase der Saison schon kontrollierter“ ausgefallen, „weil aus der Geschichte gelernt wurde. Zudem hatte City lange den Punktevorsprung. Van Dijk gab vergangene Saison trotzdem zu Protokoll, dass er während dem Unentschieden gegen Leicester Ende Januar die Nervosität der Fans in Anfield spürte. Die Nerven flatterten trotz aller Unterdrückungsmechanismen wie wild gewordene Kanarienvögel. Dieses 1:1 war eines der Spiele, die uns den Titel kosteten. Ob die Reds an diesem Tag mit positiver Unterstützung noch das Siegtor erzielt hätten? Das weiß niemand, dennoch kann es nur helfen. Und jetzt? Die Gegenwart ist beinahe zu gut, um wahr zu sein.“
Geisterspiele oder Abbruch
Zwei Tage nach dem Achtelfinale in der Champions League erklärt die Premier League ihren Spielbetrieb für unterbrochen. Ob er noch einmal aufgenommen wird? Die Premier League sagt: „Ja.“ Wann und wie genau ist aber unklar. Da Covid-19 in England deutlich heftiger tobt als in Deutschland, kann man sich dies nicht so recht vorstellen.
Für den FC Liverpool und seine Fans wäre der Abbruch der Saison ein Alptraum. Die meisten Fans der „Reds“ würden wohl Geisterspiele einem Abbruch vorziehen.
In England zweifelt niemand daran, dass Liverpool „durch ist“. Neun Spieltage vor Schluss führt Klopps Team die Tabelle mit 25 Punkten Vorsprung an. Sollte Manchester City sein Nachholspiel gewinnen, sind es 22 Punkte. Die „Reds“ müssen also aus den verbleibenden neun Spielen maximal sechs Punkte holen. In der Bundesliga führen die Bayern mit nur vier Punkten Vorsprung bei ebenfalls noch neun ausstehenden Begegnungen. Nun könnte man denken: Wenn Liverpool im Prinzip „durch ist“ – kann man dann nicht auf den Rest der Spiele verzichten und Liverpool auch ohne diese zum Meister zu küren? Das wird wohl auch passieren, sollte es zum Abbruch kommen.
Trotzdem kann sich kaum ein Liverpool-Fan damit anfreunden. Wenn man weiß, dass man mit allergrößter Wahrscheinlichkeit Meister wird, ist ein Abbruch besonders schmerzhaft. Der Titel würde stets mit dem Makel behaftet sein, dass die Runde nicht zu Ende gespielt wurde. In den Annalen würde man lesen: „Saison 2019/20: Meister: FC Liverpool. (Auf Grund der Covid-19-Pandemie wurde die Saison nach 29 von 38 Spieltagen abgebrochen.)“ Klingt ein bisschen nach „Kriegsmeister“. Liverpool hätte zwar nach 30 Jahren endlich wieder den Titel, und dies auch noch hochverdient – aber halt nur „Corona-Meister“.
Im Falle der Bayern ist dies anders. Ob der Klub nun zum 30. Male Meister wird, davon zum achten Mal in Folge, bewegt vermutlich selbst den Bayern-Fan nur mäßig. Weshalb man als Bayern-Fan leichter sagen kann: „Brecht ab!“ Anders wäre es, würde Schalke 04 die Bundesligatabelle mit 22 Punkten Vorsprung anführen. Seit 62 Jahren endlich wieder Meister! Tun die „Knappen“ aber nicht – sie liegen 18 Punkte hinter dem Rekordmeister.
„Es wäre eine traurige Meisterschaft“
Richard Köppe ist Chefredakteur der Homepage von Redmen-Family. Vom Werkstatt-Blog gefragt, was er sich wünsche, Abbruch oder Geisterspiele, ist seine Meinung eindeutig: „Es ist aus Liverpooler Sicht eine bizarre, bittersüße Situation. Der Schampus steht seit mehr als einem Monat im Kühlschrank und wartet darauf, dass die ‚Reds‘ sich die nötigen sechs Punkte für die Meisterschaft holen. Auch wenn dieser Moment zum Greifen nahe ist, finde ich es gut, dass sich die Entscheidungsträger Zeit lassen, den Spielbetrieb in der Liga wieder aufzunehmen. Es wäre eine traurige Meisterschaft, wenn wir unnötig Menschenleben riskieren müssten. Da die Premier League sich stark darum bemüht, die Saison sportlich und nicht am grünen Tisch zu Ende zu bringen, bin ich beruhigt, dass es alles nur eine Frage der Zeit ist, bis wir den ersten Meistertitel seit 1990 feiern dürfen. Ein Titelgewinn unter Ausschluss der Öffentlichkeit wäre zwar traurig, aber wenn die Ausgeheinschränkungen wieder aufgehoben werden, wird die Party danach nur umso größer werden.“
Sein Mitstreiter André Völkel war „zunächst geschockt“ und ist „mittlerweile traurig“ über den Verlauf der Dinge. „Für mich ist es eine teilweise unfassbare Situation. Es ist eine beispiellose Ausnahmesituation und die Sicherheit und Gesundheit aller geht immer vor. Ich war mir relativ früh schon sicher, dass die Premier League die Integrität der Liga wahren muss und diese Krise aussitzen wird. Von daher blieb die Panik aus. Mir tut es für die vielen Fans leid, die vielleicht sogar schon Tickets hatten oder ihren Trip gebucht haben und jetzt auf ihren Kosten liegen bleiben. Auch für die vielen älteren Fans, für die der Ligagewinn noch einmal etwas ganz Besonderes ist. Ich hoffe, dass wir durch diese ungewollte Pause und Entschleunigung unser ‚System Fußball‘ von allen Seiten überdenken können und alle gestärkt aus der Situation hervor gehen können. You’ll never walk alone!"
Dietrich Schulze-Marmeling schreibt z.Zt. an einem Buch über den FC Liverpool unter Jürgen Klopp („Klopps Liverpool“) sowie an einer Geschichte des Trainerberufs. Zuletzt veröffentlichte er in unserem Verlag „Reds. Die Geschichte des FC Liverpool“.