(Kein) Fußball in Corona-Zeiten (2)
Das Ende des Fußball-Booms ist absehbar. Eine Katastrophe? Nein. Sondern das Schrumpfen auf ein normales, längst bekanntes Niveau – sagt Dietrich Schulze-Marmeling.
Die Bundesligasaison 1966/67 war die erste, in der ich des Öfteren die Heimspiele von Borussia Dortmund besuchte. Die Borussen, die im Mai 1966 als erste deutsche Mannschaft eine europäische Trophäe gewonnen hatten, wurden in dieser Saison Dritter. Im Schnitt kamen 26.104 Zuschauer zu ihren Auftritten in die „Rote Erde“ – also rund 54.000 weniger, als heute ins Westfalenstadion pilgern. Der BVB lag damit in der Zuschauertabelle auf Platz vier – hinter dem VfB Stuttgart (30.558), Fortuna Düsseldorf (27.930) und Eintracht Frankfurt (27.770). Die „rote Laterne“ trug der 1. FC Kaiserslautern mit 16.914 Zuschauern – das waren 4.278 weniger, als die Lauterer in der Saison 2018/19 zwei Spielklassen tiefer mobilisierten.
In meinen Lego-Stadien („Rote Erde“, „Old Trafford“, „Tivoli“, „Waldstadion“, „Bökelberg“) setzte ich die schmalen „Zweier-Steine“ als Zuschauer ein. Ich ließ stets einige Ränge frei, sodass man die Stufen und die Wellenbrecher sehen konnte. Freie Ränge gehörten zum normalen Bild von Bundesligastadien. Trotzdem behauptete niemand, der Profifußball befände sich in einer Krise.
Krise des Fußballs
Im Mai 1989 schrieb ich meinen ersten Fußball-Artikel. Thema war die Katastrophe von Hillsborough, als beim FA-Cup-Halbfinale FC Liverpool gegen Nottingham Forest 96 Fans der „Reds“ ums Leben kamen. In dieser Saison besuchten in Deutschland im Schnitt 18.868 bzw. 6.076 die Spiele der 1. und 2. Bundesliga.
Der Fußball befand sich nun tatsächlich in einer Krise, wobei diese nicht in erster Linie finanzieller Art war. Ramponiert war vor allem sein Ansehen. Die 1980er gingen in die Annalen des deutschen Fußballs als die langweiligen Jahre ein. International litt das Spiel u. a. unter der Katastrophe von Heysel (1985).
Aber bereits mit der WM 1990 in Italien zeichnete sich eine Wende zum Besseren ab. Die DFB-Elf wurde Weltmeister, nicht zuletzt dank ihrer „Italien-Legionäre“. (Die Serie A war damals die stärkste und attraktivste Liga in Europa. Das heißt: Den Deutschen erging es damals so wie den Niederländern und später den Franzosen, deren Nationalmannschaften ebenfalls davon profitierten, dass ihre besten Spieler nicht daheim, sondern in den Ligen anderer Länder ihre Brötchen verdienten.)
In Deutschland interessierten sich nun auch solche Kreise für das Spiel, die es zuvor mehr oder weniger ignoriert hatten. Eine Veränderung der Medienlandschaft sorgte dafür, dass die TV-Einnahmen stiegen – und mit ihnen auch die Spielergehälter. Borussia Dortmund startete eine „Italien-Rückhol-Aktion“. Das „neue Geld“ förderte aber auch die Auflösung des Solidarprinzips zwischen den Profiklubs.
Ende des Booms?
Im Herbst 1992 veröffentlichte ich mein erstes Fußballbuch: „Der gezähmte Fußball“. 2010 listete das Magazin „11 Freunde“ das Buch in einem Sonderheft über die 1990er unter den „besten Fußballbüchern des Jahrzehnts“. Mit diesem Buch seien gleich zwei Ären gestartet worden: „Die von Dietrich Schulze-Marmeling als fußballverrücktem Allesschreiber und die des Göttinger Verlags ‚Die Werkstatt‘ als Produktionsstätte für hochklassige Fußballliteratur. Als einer der ersten Autoren versucht sich Schulze-Marmeling an einer gebündelten Zusammenfassung der sozialen und politischen Geschichte des Sports. (…) Wer sich Fußball-Intellektueller schimpfen will, kommt um dieses Buch nicht herum.“
„Der gezähmte Fußball“ war der Startschuss zu eine einer neuen Form von Fußballliteratur, die nun – wie das Spiel – einen Boom erlebte. Wir kritisierten die kommerzielle Entwicklung des Fußballs – und partizipierten an dieser. Am Ende der Saison 1992/93 waren 26.094 bzw. 5.612 zu den Spielen der 1. und 2. Bundesliga gekommen. Die 1. Bundesliga betreffend waren dies fast 9.000 mehr als in der Saison 1972/73, als die Liga unter dem Bundesligaskandal litt. Gleichzeitig lag der Zuschauerzuspruch um gut 17.000 (1. Bundesliga) bzw. gut 13.000 (2. Bundesliga) unter dem der Spielzeit 2018/19.
Die 3. Liga bestand damals aus zehn Oberligen. Mein damaliger „Zweitverein“ Preußen Münster wurde in der Saison 1992/93 Meister der Oberliga Westfalen – mit einem Zuschauerschnitt von 2.900. In seiner letzten Zweitligasaison 1990/91 hatte der Klub im Schnitt 8.400 Zuschauer mobilisiert – nur Meister Schalke und Vizemeister Duisburg hatten damals vollere Stadien bei ihren Heimspielen. 8.400 Zuschauer galten damals als Beleg für eine große Fußballbegeisterung in Münster. Heute herrscht hier bei 6.500 (in der 3. Liga) Untergangsstimmung.
Die Zahlen, die uns damals von einem Boom schwärmen ließen, wären heute ein Beleg für eine tiefe Krise.
Aktuell wird manchmal so getan, als drohe mit der Corona-Krise das Ende des Profifußballs. Nein, es droht höchstens das Ende eines Profifußballs, wie wir ihn seit einigen Jahren erleben und an den wir uns (zu sehr) gewöhnt haben.
Die vielen Boom-Meldungen der letzten Jahre, der Glaube an ein scheinbar unbegrenztes Wachstum haben unseren Blick auf den Fußball vernebelt. Wobei wir ohnehin vergessen: Was den Zuschauerzuspruch anbelangt, so waren die größten Boom-Jahre des deutschen Fußballs die Nachkriegsjahre, als auch die unteren Spielklassen beträchtliche Zuschauerzahlen vermeldeten. Der „Neuzeit-Boom“ blieb auf die obersten Ligen beschränkt und ging auf Kosten des Amateurfußballs.
Dabei wurde auch in der Saison 1992/93 in Deutschland Profifußball gespielt. Profifußball bedeutet ja zunächst nur, dass Menschen mit dem Kicken ihren Lebensunterhalt bestreiten. Für die Definition ist dabei unerheblich, ob ihr monatliches Salär 5.000 oder eine Million Euro beträgt. (Was jetzt nicht bedeutet, dass ich der Auffassung bin, Fußballer dürften nicht viel Geld verdienen.) Meine Eltern empfanden es in den 1960ern als irritierend, wenn ein Fußballer so viel verdiente wie mein Vater als Schulleiter eines Gymnasiums.
Corona-Krise als „Epochenwende“
Rouven Schröder, Sportdirektor von Mainz 05, prophezeit: „Die Marktwerte werden runtergehen, die Transferausgaben und Gehälter werden neu justiert. Es geht an Eingemachte.“ In der „Frankfurter Rundschau“ stellt Bascha Mika dem Historiker Paul Nolte die Frage: „Werden wir in Zukunft von der Epochenwende 2020 sprechen?“ Nolte: „Da bin ich ganz sicher: Es ist eine historische Zäsur. Die Folgen werden dramatischer sein, als wir sie uns ausmalen können.“
Ob dies auch für den Profifußball gilt, wird sich zeigen. Momentan habe ich eher den Eindruck, dass die Krise nicht zu einem wirklich neuen Denken – im Sinne von mehr Bescheidenheit – genutzt wird. Diskutiert wird eine Neugestaltung von Financial Fairplay, ein Ende von „50+1“ – Maßnahmen, um „frisches Geld“ ins Spiel zu bringen.
Gehen wir mal davon aus, das alles funktioniert nicht. Funktionieren kann es ohnehin nur für eine begrenzte Zahl von Klubs – der Rest muss umdenken und aufhören, vorwiegend nur auf Sicht zu fahren. Gehen wir mal davon aus, dass sich die meisten Klubs von der Hoffnung verabschieden müssen, dass schon in absehbarer Zeit alles so wie früher sein wird.
Andere Fußballländer waren schon vor der Corona-Krise „arm dran“. Beispielsweise die Niederlande, wo die TV-Gelder, Sponsorengelder, Spielergehälter und der Zuschauerzuspruch nicht annähernd deutschen Verhältnissen entsprechen.
In der Saison 1994/95 gewann Ajax Amsterdam die Champions League, mit einem Fußball, der die Gourmets des Spiels mit der Zunge schnalzen ließ. Es war der sechste Triumph eines niederländischen Klubs in diesem Wettbewerb. Deutsche Vereine hatten bis dahin erst viermal den „Henkelpott“ gewonnen. Eine Saison später – 1995/96 – erreichte Ajax noch einmal das Finale, unterlag aber Juventus Turin nach Elfmeterschießen. Auf dem Weg dorthin wurde der amtierende deutsche Meister und Champions-League-Neuling BVB im heimischen Westfalenstadion nach allen Regeln der Fußballkunst zerlegt.
Am 15. Dezember 1995 fällte der Europäische Gerichtshof (EuGH) das sogenannte Bosman-Urteil. Dieses hatte einschneidende Folgen für den niederländischen Klubfußball bzw. die niederländische Eredivisie. Der Ausbildungsverein Ajax wurde von der EuGH-Entscheidung extrem hart getroffen. Von den 13 Spielern, die 1995 das Champions-League-Finale bestritten (neun Akteure der Startformation entstammten der eigenen Jugend), verließen in den folgenden Jahren elf den Klub, um bei lukrativeren Auslandsadressen anzuheuern.
Auf der europäischen Bühne haben die niederländischen Klubs seither an Bedeutung verloren, wenngleich Ajax 2016/17 das Finale der Europa League und 2018/19 das Halbfinale der Champions League erreichte. Dass es ein niederländischer Klub in einem europäischen Wettbewerb so weit schafft, war in den Jahren 1968/69 bis 1996 nichts Besonderes. In diesem Zeitraum fanden 13 Finals mit niederländischer Beteiligung statt, in neun davon siegten Ajax, Feyenoord Rotterdam oder PSV Eindhoven. Nun aber galt das Abschneiden von Ajax in der Europa League 2016/17 und in der Champions League 2018/19 als: Sensation.
Obwohl die niederländischen Klubs seit 1996 international an Konkurrenzfähigkeit eingebüßt haben – weitgehend unverschuldet, muss man betonen –, wird in den Niederlanden auch heute noch Profifußball gespielt. In dieser Saison kamen bis zum Corona-bedingten Stopp des Spielbetriebs im Schnitt 18.233 zu den Spielen der Eredivisie. In einem Land, dessen Einwohnerzahl nur ein gutes Fünftel der Bundesrepublik beträgt, das 800.000 weniger als das Bundeslandes Nordrhein-Westfalen zählt. Diese 18.233 machten auch keinen durchweg unglücklichen Eindruck – jedenfalls sofern ihr Team das Spiel nicht verloren hatte. In der Ausbildung sind die Niederländer auch wieder gut dabei, nachdem das einstige Ausbildungsland par excellence hier vorrübergehend ins Hintertreffen geraten war. Allein der FC Liverpool hat drei Niederländer unter Vertrag (Virgil van Dijk, Georgino Wijnaldum und das 18-jährige Talent Sepp van den Berg), Matthijs de Ligt (20) kickt bei Juventus Turin, Frenkie de Jong (22) beim FC Barcelona. Die Ausbildung muss nicht unter geringeren TV- und Sponsorengeldern leiden – im Gegenteil.
Wird der Profifußball bescheidener?
Dem deutschen Profifußball drohen schlimmstenfalls niederländische Verhältnisse. Mit hoher Wahrscheinlichkeit aber nicht einmal annähernd solche. Die Profiklubs der 1. und 2. Bundesliga werden auch nach Corona bessere TV- und Sponsorenverträge abschließen als die niederländischen. Und da die Corona-Krise eine globale ist, muss man auch nicht – wie die Eredivisie nach 1996 – einen Absturz im internationalen Vergleich befürchten.
Was droht, das ist ein etwas bescheidenerer Profifußball – man könnte auch sagen: Profifußball wird wieder etwas „normaler“. Sowie ein weiteres Auseinanderfallen in unterschiedliche Fußballkulturen – ein Prozess, der aber ohnehin schon stattfindet.
Existenzbedrohend wird es allerdings, wenn man ausschließlich auf Sicht fährt, anstatt den Entwicklungen vorauszueilen. Der größte Kostenfaktor sind die Spielergehälter. Warum soll das Gros der Spieler nicht verstehen, dass viele Vereine gar nicht anders können, als die Gehälter kräftig zu reduzieren? Es geht auch um ihren Arbeitsplatz. Hier stehen sie vor der Wahl: Profifußball auf einem (finanziell) niedrigeren Niveau als bisher – oder überhaupt kein Profifußball – zu Gunsten eines „ordentlichen Berufs“, wie es früher hieß. Hochdotierte Arbeitsplätze werden mitnichten verschwinden. Es werden nur deutlich weniger werden.
Je länger ich hier schreibe, desto mehr steigt meine Sehnsucht nach einem Profifußball, der wieder „normal“ ist.
Dietrich Schulze-Marmeling schreibt z.Zt. an einem Buch über den FC Liverpool unter Jürgen Klopp („Klopps Liverpool“) sowie an einer Geschichte des Trainerberufs. Zuletzt veröffentlichte er in unserem Verlag „Reds. Die Geschichte des FC Liverpool“.